Kunst-Utopia – über Helga Müller, Leiterin der Galerien Artlantis in Stuttgart.
In der Reihe unserer Kunstvermittlerporträts nun die zweite “Privat-Galerie“. Vor Jahren schon habe ich Helga Müller dieses Porträt vorgeschlagen und freue mich, dass es nun endlich gelingt.
Denn Helga Müller ist durchaus eine besondere Galeristin: Mit Galerien in Köln und – seit 1958 – in Stuttgart hat sie einige Jahrzehnte Galerien– und deutsche Kunst– Geschichte miterlebt, und, das darf man sagen, auch mitgestaltet. Darüber hinaus hat sie – gemeinsam mit ihrem 2009 verstorbenen Mann Hans-Jürgen Müller – der Bedeutung von Kunst mit ihrem Kunst- und Kulturprojekt MARIPOSA auf Teneriffa, „einen ganz besonderen Raum der Kunsterfahrung geschenkt, die wir weitgehend verlernt haben. Nicht Kunst=Marktwert, Markendenken, sondern Kunst=Inspiration, Phantasie – Anstoß zu eigenem kreativen Denken und Handeln.“ (Helga Müller)
Helga Müller über MARIPOSA:
“Mit MARIPOSA haben wir einen besonderen Ort der Verbindung von Kunst und Kultur begründet, der es seinen Besuchern ermöglicht, aus ihrem alltäglichen Denken und Wahrnehmen herauszutreten und sich geistig und seelisch mit grundlegenden Zukunftsfragen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen.“
Helga Müller, Gründerin
Man sieht sofort, dass wir ein dickes Buch schreiben müssten, um dieses Projekt,, in welchem Kunst und Gesellschaft ganzheitlich gedacht werden, angemessen zu beschreiben, zu erklären. Dies ist an dieser Stelle leider nicht möglich, weshalb wir alle, die es genauer wissen möchten, auf die MARIPOSA-Website verweisen.
Doch ist es genau diese Überkomplexität des Denkens (und soweit möglich, des Handelns), die die Arbeit der Kunstvermittlerin Helga Müller auszeichnet und so besonders macht: Deshalb doch gleich hier noch die ersten Absätze des erklärenden Einstiegstextes auf der MARIPOSA-Website (www.kulturpark-mariposa.com).
KULTURPARK UND ZUKUNFTSLABOR
MARIPOSA heißt alle Gäste willkommen, die sich für einige Zeit zurückziehen möchten, um an einem einzigartigen Ort gemeinsam neue Ideen zu entwickeln und Zukunft zu gestalten. Es versteht sich als Zukunftslabor und Think Tank, an dem neu und bahnbrechend ge- und überdacht werden darf.
MARIPOSA wurde in der Überzeugung begründet, dass Kunst und Kultur die Wurzeln einer toleranten und weltoffenen Gesellschaft sind. Deshalb verbindet MARIPOSA zukunftsorientierte Fragestellungen mit Arbeitsansätzen und Erfahrungsräumen aus Kunst, Wissenschaft und Philosophie.
Fesselnd erzählt Helga Müller von der Anfangszeit der Galeriearbeit und der Entstehung von MARIPOSA – und von ihrem weitsichtigen Partner Hans-Jürgen Müller, der schon 1958 in Stuttgart in der Hohenheimer Straße seine 1. Galerie eröffnet und damals mit ersten Ausstellungen von Cy Twombly, Peter Brüning, Morris Louis, Arnulf Rainer und Emil Schumacher etc. Stuttgart zum europäischen Anlaufpunkt der Avantgarde gemacht hat.
Helga Müller hat selbst im Jahr 2019, 10 Jahre nach dem Tod ihres Mannes, einen Beitrag geschrieben, der diese Zeit gut beleuchtet: Wir erinnern an Hans-Jürgen Müller
Hier im kunstportal-bw wollen wir uns jedoch auf die aktuellen Fakten fokussieren, denn Helga Müller arbeitet – trotz der zuletzt durch Corona ja sehr schwierigen Situation – unermüdlich weiter:
Helga Müller lebt in Stuttgart, wo sie in ihrem Wohnhaus auch die “Stadtgalerie“ führt und ständig Ausstellungen organisiert. Parallel gibt es in Untertürkheim ihre weiträumige Dependance – den Schauraum. Fast immer werden beide Räume gleichzeitig bespielt; dies organisiert Helga Müller mit einem kleinen Team aber großem Engagement. Auch das umfangreiche Kunst- und MARIPOSA-Archiv haben hier ihren Platz gefunden.
Die Liste der Künstler der Galerie ist zu lang, um sie alle hier aufzuführen; zwei davon finden sich auch in der Liste der kunstportal-bw Künstler: Gerhard Mantz und René Kanzler.
Nach mehrmonatiger corona-bedingter Schließung gibt es im Oktober 2020 zwei neue Ausstellungen:
Die erste ist schon seit 19.09. zu erleben:
Stadt-Galerie – ab dem 19.09. bis 12.12.2020 – POESIE + TOD – Fotokunst-Accrochage
Kunst war ja immer schon eine recht elitäre Sache – von Wenigen für Wenige betrieben – darin war und ist die Avantgarde stets auch Ausdruck und Antizipation nicht nur ästhetischer Veränderungen, sondern auch politisch-soziologischer Tendenzen. „Wer sie lesen kann, gehört meist zu denjenigen, die die Welt verändern, weil sie sensibilisiert für Entwicklungen sind“ sagt Helga Müller.
Hans-Jürgen Müller hat die Avantgarden nach 1945 entscheidend mit geprägt und Helga Müller zeigt mit den von ihr ausgewählten Künstlern und ihrer Ausstellungspolitik, dass sie kaum dem Markt, sondern eigenen Qualitätsansprüchen folgt. Sie ist dabei immer konsequent.
Sie mag die Möglichkeit einer gegenseitigen Durchdringung von Kunst und Gesellschaft in diesen Zeiten eines fast nur noch spekulativen Kunstmarktes für fragwürdig halten, sieht aber den Sinn ihrer Arbeit als Kunstvermittlerin darin, dennoch weiter für dieses Ziel zu arbeiten, „wenn wir kulturell nicht völlig vor die Hunde gehen wollen“, wie sie sagt. Sie ist – wie auch an ihrer Weiterentwicklung des Kulturprojekts MARIPOSA ersichtlich, von der Notwendigkeit einer Realisierung dieser Vision (oder Utopie?) überzeugt.
Vielleicht geht es hier um eine Ästhetik des Widerstands im Sinne von Peter Weiss. Ich verstehe die Arbeit von Helga Müller gegen den dystopischen Zeitgeist als:
Kunst-Utopia.
Jürgen Linde im Oktober 2020