Kunst ist Resonanz – über Holger Jacob-Friesen

Prof. Dr. Holger Jacob-Friesen ist Leiter der Abteilung Sammlung und Wissenschaft an der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und lehrt Kunstgeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Holger Jacob-Friesen neben dem Diptychon eines böhmischen Meisters
© Foto: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe/Heike Kohler

In unserer Reihe der (inzwischen über 220) Künstlerporträts versuchen wir der Kunst näher zu kommen. Damit betreiben wir Kunstvermittlung. Das tun auch andere, oft auf engagierte, interessante und individuelle Weise. Daher haben wir die Rubrik der Kunstvermittlerporträts eingeführt. Dabei soll es jetzt endlich einmal um die Vermittlung historischer Kunst gehen. Uns interessiert schon lange, was die Faszination der Alten Meister in unserem Zeitalter der digitalisierten Bilderflut ausmacht.

Holger Jacob-Friesen ist Experte für deutsche, niederländische, französische und italienische Malerei des 14. – 18. Jahrhunderts. Und er kann diese Kunst so lebendig und begeisternd erklären wie kaum ein anderer. Unseren  Vorschlag, ihn und seine Arbeit in einem Kunstvermittlerporträt vorzustellen, begrüßte er freundlich – für ihn eine Möglichkeit, in seiner Vermittleraufgabe ein noch größeres Publikum zu erreichen.

Bei der Begegnung mit Holger Jacob-Friesen in der Kunsthalle Karlsruhe – im März 2021 zwischen zwei Lockdowns – führt er mich gleich vor das älteste Werk, das in seinem Museum bewahrt wird: Das Diptychon, das ein böhmischer Meister um 1360 gemalt hat. Und man spürt seine Begeisterung, wenn er ausführt:

„Wir haben hier ein kostbares Werk vor uns, das vor über 650 Jahren in Prag als Reisealtärchen für den Kaiser oder eine hochstehende Persönlichkeit aus seinem Umfeld angefertigt wurde. Sehr alt und doch auch ganz modern, wenn man seine Form betrachtet. Es handelt sich nämlich um ein „tablet“: flach, klappbar, transportabel – wie ein Tabletcomputer, nur mit zwei screens. Das Wort und die Idee dahinter sind antik. Tablet kommt vom lateinischen „tabula“, was Tafel bedeutet, beziehungsweise von der Verkleinerungsform „tabuleta“. Solche klappbaren Täfelchen haben die Römer als Notizbücher, „notebooks“ also, benutzt: Die gerahmten Flächen waren mit Wachs gefüllt, in die man mit einem Griffel hineinschreiben konnte. Durch Glätten ließ sich das leicht löschen, und der Bildschirm war wieder blank. Der entscheidende Unterschied bei dem „tablet“, vor dem wir stehen, ist, dass es dabei nicht um etwas Flüchtiges, Ephemeres geht, sondern um die Ewigkeit.“

[ Anm.d.Red.: Solche antiken Wachstäfelchen gibt es heute nachgebaut und alltagstauglich: Diptychon ]

Bei der Vermittlung Alter Meister hilft es, wenn man sie mit der Lebenswelt von heute verbinden kann. Holger Jacob-Friesen sucht und findet diese Anknüpfungspunkte zur Jetztzeit. Andererseits ist ihm wichtig, historische Zusammenhänge deutlich zu machen:

„Im frühen Mittelalter gab es Gemälde nur in der Form von Fresken oder Miniaturen, also an Wänden und in Büchern. Es war eine folgenreiche Erfindung des Hochmittelalters, dass man auch auf fein gehobelte und grundierte Holzbretter malen kann. Es ist die Geburtsstunde des mobilen „Tafelbildes“, das die europäische Kunstgeschichte bis heute wesentlich bestimmt. Mit dem böhmischen Diptychon besitzen wir ein frühes Beispiel.“

Böhmischer Meister, Diptychon: Maria mit dem Kinde und Christus als Schmerzensmann, um 1360. Mischtechnik auf Holz, je 25 x 18,5 cm,
© Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. 2431, Foto: Heike Kohler/Annette Fischer

Nachdem er den Zugang über die äußere Form gewählt hat, kommt Holger Jacob-Friesen auf den Inhalt zu sprechen, der den meisten Museumsbesucherinnen und -besuchern noch vor einer Generation selbstverständlich gewesen sein mag, es heute jedoch nicht mehr ist. Hieraus ergibt sich eine bedeutende, ständig wachsende Vermittlungsaufgabe: Die christliche Glaubens- und Vorstellungswelt ist vielen kaum noch bekannt. Zugleich bedarf die während vieler Jahrhunderte dominante christliche Ikonographie der Erläuterung.

„Das Großartige am böhmischen Diptychon ist, dass hier die wichtigsten Heilswahrheiten nach christlichem Verständnis auf sehr knappe Weise zum Ausdruck gebracht sind: Auf der linken Seite die Menschwerdung Jesu: Maria ist durch eine Krone und einen blauen Mantel als Himmelskönigin gekennzeichnet. Liebevoll hält sie das Kind und schmiegt ihre Wange an die seine. Ihr Blick aber geht traurig zur anderen Seite, weil sie weiß, dass dieses Kind auf die Welt kam, um sich für die Menschheit zu opfern. Rechts ist folglich der tote Jesus zu sehen. Darunter steht in lateinischer Sprache „misericordia domini“, was sich auf zweifache Weise übersetzen lässt: Das Mitleid mit dem Herrn, der so viel Schmerz und Demütigungen ertragen musste. Oder: Das Erbarmen des Herrn, der mit seinem Tod die Menschen erlöst. Der Tod ist nämlich nicht das Ende. Man erkennt es daran, dass sich Jesus aufgerichtet hat und mit seiner linken Hand auf die blutende Seitenwunde hinweist. Hier geht es auch um das Versprechen der Auferstehung, um das Leben nach dem Tod. Im Diptychon sind also die Botschaften von Weihnachten, Karfreitag und Ostersonntag zusammengefasst.“

Man muss nicht religiös sein, um die Kenntnis solcher Glaubensinhalte für wichtig zu halten, denn sie haben unsere Kultur über Jahrhunderte bestimmt. Auf Bildern kann man sie sich anschaulich erschließen. Doch legt Holger Jacob-Friesen auch Wert auf die Feststellung, dass ein Museum etwas anderes als eine säkularisierte Kirche ist. Zwar ist die Vermittlung theologischer Hintergründe essenziell, die hier gezeigten Werke sind aber in erster Linie Kunst. Und so macht er mit Nachdruck auf die ästhetischen Qualitäten des Werkes aufmerksam:

„Die Bilderrahmen, die übrigens original erhalten sind, wirken wie Fensterrahmen. Der Blick fällt durch diese Fenster auf die von himmlischem Licht umglänzten Personen. Es ist der fein ornamentierte Goldgrund, der dieses Licht erzeugt und den Raum als jenseitig kennzeichnet. Der blaue Marienmantel und der weiße Schleier harmonieren mit dem Gold auf besonders schöne Weise. Wunderbar, wie die zärtliche Mutter-Kind-Beziehung und der stille Schmerz Marias zum Ausdruck gebracht sind. Eindrucksvoll auch die Gestalt des zugleich toten und lebenden Schmerzensmannes Jesus, der sich seiner Mutter zuzuneigen scheint. Hier war wirklich ein großer Künstler am Werk, dessen Namen wir leider nicht kennen.“

Wieder spürt man die Begeisterung des Vermittlers für seine Aufgabe. Er mag es, eine Verbindung zwischen den Kunstwerken einerseits, den Betrachterinnen und Betrachtern andererseits herzustellen – am liebsten ganz persönlich, was durch die Corona-Epidemie so sehr erschwert wird. Die Führungen und Bildbetrachtungen fehlen ihm in der Zeit der Kontaktbeschränkungen. Ein anderer wichtiger Teil seiner Arbeit ist die Vorbereitung von Sonderausstellungen, darunter in jüngerer Zeit zwei Große Landesausstellungen:
Viel beachtet wurde die Ausstellung „Die Meister-Sammlerin. Karoline Luise von Baden“ – gewidmet der bedeutenden badischen Markgräfin zur Zeit der Aufklärung, die durch ihre rege Sammeltätigkeit zur heimlichen Gründerin der Kunsthalle wurde. Noch erfolgreicher war vor gut einem Jahr die Ausstellung zu einem der herausragenden, zugleich eigenwilligsten Künstler der Renaissance: „Hans Baldung Grien: heilig | unheilig“. Da war die Kunsthalle, kurz vor Ausbruch der Pandemie, noch einmal gerappelt voll.

Unvergesslich auch die Ausstellung „Von Schönheit und Tod. Tierstillleben von der Renaissance bis zur Moderne“, in der ein scheinbar randständiges, dennoch spannendes Thema mit Werken von höchster Qualität vor Augen geführt wurde.

Holger Jacob-Friesen, der in Basel promoviert wurde und seit 1999 an der Kunsthalle tätig ist, leitet heute die Abteilung Sammlung und Wissenschaft. Er trägt somit die Verantwortung für eine Sammlung, die rund 4000 Gemälde vom 14. bis zum 21. Jahrhundert und 90.000 Werke auf Papier umfasst. Sein eigentliches Spezialgebiet sind die Gemälde deutscher, niederländischer und französischer Meister von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die Erforschung der Werke liegt ihm am Herzen, ebenso jedoch die Weitergabe des Wissens. Als Honorarprofessor am KIT kümmert er sich um die Ausbildung angehender Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker.

Bis heute können Bilder Alter Meister eine hohe Faszination ausüben, wenn man sich für die Betrachtung wirklich Zeit nimmt. Vermittlung muss deswegen immer auch Anleitung zu genauem Hinsehen sein. Das ist nicht einfach, weil die neuen Medien zu einer Bilderschwemme und zu permanenter Reizüberflutung geführt haben. Wir sind es nicht gewohnt, uns länger als ein paar Sekunden auf ein Bild zu konzentrieren. Dabei kann einen die Kunst, richtig gesehen, sehr belohnen: Sie regt an (Hans Belting nennt den Kopf den Ort des Bildes) und sie ist unterhaltsam. Jedenfalls kann sie es sein, wenn man sie mit Leidenschaft vermittelt. Einen Widerhall bei seinem Gegenüber zu erzeugen, darum geht es Holger Jacob-Friesen. Denn er weiß:

Kunst ist Resonanz.
Jürgen Linde im April 2021

Wir danken Holger Jacob Friesen für die sehr gute Zusammenarbeit und für seine – oben durch Kursivschrift kenntlich gemachten – Textbeiträge.