Wolfgang Gießler († 2021)

„…die Liebe, o Govinda…“ – über Wolfgang Gießler

Wolfgang Gießler | © Foto: privat

„(…)Diese Balance zwischen Absolutheit und ‚Privatheit‘ kann man vielleicht als das eigentliche Anliegen meiner Kunst ansehen.“
Dies schreibt der Künstler Wolfgang Gießler in einem kurzen Text  „Zu meiner Arbeit (2003)“.
Absolutheit? Privatheit?
Mir war gänzlich unklar, was diese beiden Begriffe miteinander zu tun haben soll(t)en, als ich sie zum ersten Mal im Zusammenhang sah.

Versuchen wir, uns dies zu erklären:
Bei einem ersten Gespräch – natürlich bei einer Vernissage (Galerie von Tempelhoff) – lerne ich den Künstler kennen; erfahre, daß es die konkrete Kunst ist, mit der und gegen die – so erscheint es mir – er sich und seine Arbeit definiert.

Bei einem Atelierbesuch erfahre ich mehr: im ersten seiner großzügigen Arbeitsräume zeigt mir Wolfgang Gießler seine aktuellen Fotografien, danach noch viele Beispiele seiner bisherigen Arbeit. Mir wird klar, daß die früheren Arbeiten (große reliefartige Papierarbeiten, meist fast monochrom) und die ganz aktuellen Fotografien in einem inneren Zusammenhang stehen, den ich allerdings noch nicht begreife. Ich bin fasziniert von der Vielfalt und neugierig auf diesen roten Faden, und so vereinbaren wir dieses Porträt.

Fangen wir einfach systematisch an: schlagen wir zunächst mal nach, was konkrete Kunst ist, dann schauen wir uns die bisherige künstlerische Arbeit von Wolfgang Gießler an.

„Konkrete Malerei und Plastik ist die Gestaltung von optisch Wahrnehmbarem (…) Konkrete Kunst ist in ihrer letzten Konsequenz der reine Ausdruck von harmonischem Maß und Gesetz. Sie ordnet Systeme und gibt mit künstlerischen Mitteln diesen Ordnungen das Leben (… ) Sie erstrebt das Universelle und pflegt dennoch das Einmalige. Sie drängt das Individualistische zurück (…)“
(Quelle: Website Sammlung Daimler Chrysler; Hintergrundinformation zu einem Bild von Max Bill.)

Tusche auf Papier auf Alucobond, zweiteilig, 100 x 140 cm, 1983
(Sammlung Städtische Galerie Lüdenscheid)

„Vor seiner materialen Verwirklichung existiert das Kunstwerk bereits vollständig im Geist. Folglich muß sie [die konkrete Malerei] eine technische Perfektion aufweisen, die der Perfektion des geistigen Entwurfs entspricht. Sie darf keine Spur menschlicher Schwäche zeigen: kein Zittern, keine Ungenauigkeit, keine Unschlüssigkeit, keine unvollendeten Partien (…)“
(Theo van Doesburg, Quelle: Kunsttheorie im 20. Jh., Band 1, Seite 443)

Wir beginnen zu ahnen: dies geht in Richtung Absolutheit, während die Privatheit dann vielleicht eher dem Individualistischen zuzuordnen ist, das die konkrete Kunst gerade vermeiden will.
Was sagen uns Gießlers frühere Arbeiten dazu?

Tusche auf Papier, 1983, 200 x 140 cm

1983 | Wolfgang Gießler – Neue Arbeiten

Der Katalog zeigt (zum damaligen Zeitpunkt aktuelle) Arbeiten, durchweg in Tusche auf Papier, gewaltig in der Gesamtwirkung und durchaus nahe bei dem, was wir gemeinhin als konkrete Kunst zu bezeichnen gewohnt sind. Aber dann auch wieder nicht: einige Stellen zeigen im Original deutliche Arbeitsspuren, ganz persönliche Gesten – sind das vielleicht Gesten des Protests?

1986
Ohne Titel, Tusche auf Papier, 200 x 140 cm

1988 | Standort Lüdenscheid – 10 Jahre Stipendium

…für Bildende Kunst. In diesem Katalog finden wir Arbeiten des ehemaligen Stipendiaten Wolfgang Gießler, die man durchaus der konkreten Kunst zuzuordnen geneigt ist; bei denen die Aufteilung der Fläche sehr wichtig ist, ähnlich wie bei seinen heutigen fotografischen Arbeiten.

ohne Titel, 2000; Tusche auf Papier, 224 x 160 cm

Die Abbildung zeigt eine Tuschearbeit aus dem Jahr 2000. Auch dies eine Collage, auch hier viele Papierschichten übereinander, in einem gedämpften Gelb. Und wieder haben wir das Spannungsverhältnis zwischen klarer Flächenorganisation und lebendiger Oberfläche.

ohne Titel, 1992 (Eine der vier Arbeiten); Lack auf Hartfaser, geschmirgelt, Tusche, Nägel
je 20 x 14 cm

1993 | Vier Arbeiten

Vier Arbeiten – so der lapidare Titel eines weiteren Kataloges. Eine Ausstellung im Kunstraum G7 in Mannheim 1993.

Die vier fast (aber nur fast) monochromen Arbeiten – Lack auf Hartfaser, geschmirgelt, Tusche, Nägel – sind an die Wand genagelt und haben, wenn man sie im Original sieht, eine frappierende, den Raum neu definierende Wirkung. Geometrie ist hier im Spiel, Exaktheit und genaue Planung/Berechnung, aber auch – durch das Schmirgeln der Oberfläche – spürbare Lebendigkeit. Sehr spannend. Die vier Arbeiten arbeiten, sie tun etwas – mit uns Betrachtern.

Ich besuche den Künstler eine Woche später nochmals – um zu sehen. Bei dieser Gelegenheit gibt mir Wolfgang Gießler ein kleines Porträtfaltblatt von sich, das – neben einigen Bildern – auch einen Text enthält, der ihm sehr wichtig ist: ein Zitat aus Hermann Hesses „Siddhartha“:

Govinda sagte: „Aber ist das, was du „Dinge“ nennst, denn etwas Wirkliches, etwas Wesenhaftes? Ist das nicht nur Trug der Maja, nur Bild und Schein? Dein
Stein, dein Baum, dein Fluß – sind sie denn Wirklichkeiten?“

„Auch dies“, sprach Siddhartha, „bekümmert mich nicht sehr. Mögen die Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin alsdann ja Schein, und so sind sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben. Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.“ „Dies verstehe ich“, sprach Govinda. „Aber eben dies hat er, der Erhabene, als Trug erkannt. Er gebietet Wohlwollen, Schonung, Mitleid, Duldung, nicht aber Liebe; er verbot uns, unser Herz in Liebe an Irdisches zu fesseln.“

„Ich weiß es“, sagte Siddhartha; sein Lächeln strahlte golden.

Hermann Hesse
(aus: Siddhartha, Eine indische Dichtung,
Frankfurt am Main, 4. Auflage, 1975, S. 117)

Jetzt fange ich an zu verstehen, was die Arbeit Gießlers in Abgrenzung zur konkreten Kunst ausmacht: Max Bill, der große Theoretiker und Praktiker der konkreten Kunst, war ja der Ansicht, Kunst müsse sich aus mathematischen Gesetzen heraus generieren lassen.
Nun ist aber die Mathematik ein in sich geschlossenes – und insofern vielleicht vollkommenes – System. Bestimmt auch hilft uns die Mathematik, wenn wir gelegentlich mal mit außerirdischen Wesen kommunizieren sollten. Sie genügt aber nicht, um uns untereinander zu verständigen; das Leben ist komplexer.

Fotografie, 70 x 90 cm, 2004

Ich weiß es, sagt Siddhartha und er weiß sich eben dadurch, daß er sich im Widerspruch zum Erhabenen weiß, mit diesem in Übereinstimmung. (Immer schon gefiel mir persönlich die dialektische Weisheit Hermann Hesses besser als dessen Romane.)

In diesem Sinne, so erscheint es mir, kritisiert Wolfgang Gießler die konkrete Kunst und damit, natürlich, die Kunst als Ganzes. „Kritik“ meine ich hier im Kant’schen Sinne: als eine Befragung der Möglichkeiten und Grenzen (Kant sprach exakt gerne von den „Bedingungen der Möglichkeit“) der Kunst. So wenig wie die Philosophie, in der wir ja auch geschlossene Systeme kennen, die wir hermetisch nennen und meist nicht mögen, so wenig kann die Kunst das Leben ausgrenzen, will sie wahrhaftig sein.

„In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht als allen Philosophen bisher: Sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht“ äußert sich Nietzsche einmal in seinem Nachlaß. Und weiter heißt es dort: „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.“
(Zitiert nach: Carl Aigner im Katalog Alfred Haberpointner – Konkrete Verwandlungen; swiridoff Verlag 2003)

Ateliersituation, 2004

Was folgt aus alldem für unsere Eingangsfrage nach der Balance zwischen Absolutheit und „Privatheit“? Gießler formuliert dies (in einer e-mail) bescheiden als Standortbeschreibung:
„Ich sehe die Skala von Kunst insgesamt so: am einen Ende die ‚Absoluten‘: keine Arbeitsspuren, keine Fehler, nichts Individualistisches; am anderen Ende die ‚Spontanmaler‘, die ausschließlich Subjektiven. An einer bestimmten Stelle zwischen diesen beiden Extremen – die ich beide für legitim halte – finde ich mich wieder.“

Aus philosophischer Sicht möchte ich diese künstlerische Entscheidung höher gewichten: Wolfgang Gießler (be)findet sich außerhalb einer tendenziell hermetischen Welt des Absoluten, in welcher das einzelne Kunstwerk prinzipiell ersetzbar ist durch die Reihe exakter Anweisungen zu dessen Produktion. Dem gegenüber stehen die Subjektivität (Privatheit), das Leben und mit Siddhartha:
„…die Liebe, o Govinda…“

Jürgen Linde, im April 2004

Im Jahr 2020 ist ein hierzu ein “Fortsetzungs-Porträt” erschienen:
“…sein Lächeln strahlte golden.”