Dimensionen der Figur – über Martina Ziegenthaler

website: www.martina-ziegenthaler.de
E-Mail: martina.ziegenthaler@martina-ziegenthaler.de
“Kunstleder, genäht“ oder “MDF-Platte, Tafellack, Selbstklebefolien“ so und ähnlich lauten die Materialangaben in den Bildunterschriften zu den Arbeiten von Martina Ziegenthaler. Material wird eines unserer Themen sein. Die Arbeiten von Martina Ziegenthaler sind meist Bilder, oft aber auch Skulpturen; auch über Skulptur und Körper müssen wir hier nachdenken.

Künstlerinnen und Künstler im Kunstportal Baden-Württemberg: Martina Ziegenthaler
„Schmerzen + Unpässlichkeit“, 2001
MDF, Tafellack, Selbstklebefolien, 95 x 77 cm
© Martina Ziegenthaler, VG Bildkunst Bonn 2020

Thema ist auf jeden Fall Martina Ziegenthaler, der ich bei der letzten Karlsruher Künstlermesse, also Ende Januar 2003, begegnet bin. Am ersten Abend der Künstlermesse war mir der Ziegenthaler-Stand sofort aufgefallen, wegen der großformatigen, comicartigen Bilder, zu denen ich zunächst keinen Bezug hatte, die mich aber doch neugierig machten.
Dann gab es auf einem Tisch noch Kataloge mit Zeichnungen, Figuren in verschiedenen Haltungen, farbigen Folien, überlagert mit Strukturen, vieles zu entdecken in jedem Fall.

Es waren, wie sich dann zeigte, die aktuelleren Arbeiten, die ich gleich als spannender empfunden habe: rückblickend denke ich, daß es um das Spannungverhältnis geht zwischen Körperlichkeit und zweidimensionaler Darstellung, oder um die Dimensionen der Figur.

Künstlerinnen und Künstler im Kunstportal Baden-Württemberg: Martina Ziegenthaler
50qm, 2001 | Kunstleder, genäht, 130 x 100 cm
© Martina Ziegenthaler, VG Bildkunst Bonn 2020

Nachdem ich Martina Ziegenthaler nun in ihrem Atelier besucht habe, gedeihen die Assoziationen noch wilder: es geht, so scheint mir, um Körper, Figur, Dimensionen, Skulptur, Spannungen zwischen zwei- und dreidimensionalen Sichtweisen auf die Welt, welchselbige mir – auch das noch – zunehmend eindimensional erscheint. Ich bin verwirrt, zugegeben, habe aber auch Spuren gefunden: Martina Ziegenthaler hat Schneiderin gelernt, dann eine Ausbildung zur Bekleidungstechnikerin angehängt und danach endlich entschieden, künftig künstlerisch zu arbeiten. In diesem Tempo, mit dieser Ironie, erzählt sie dies.

Das somit folgende Studium an der Nürnberger Kunstakademie hat den Bezug zu den Materialien, die in der erwähnten Vorgeschichte wichtig waren, keineswegs abgebrochen, ganz im Gegenteil:
Diolenwatte, Seidenorganza, Bügeltransferflies, Applikation, Kunstleder oder Sky reflektierendes Stickgarn, Top-Stitch-Nadel – so etwa beginnt die lange Liste ihrer Materialien und Werkzeuge…

Künstlerinnen und Künstler im Kunstportal Baden-Württemberg: Martina Ziegenthaler
o.T., 1998 | PVC-Folien, Füllwatte, 50 x 50 cm
© Martina Ziegenthaler, VG Bildkunst Bonn 2020

Textilien verschiedenster Art, Fäden, Drähte, Watte, etwa eine ganz spezielle Diolenwatte, die man Wattine nennt, dienen als Untergrund ihrer Bilder. Die Bilder wiederum sind meist nicht gemalt, sondern entstehen zunächst im Kopf und dann am Computer. Ausgangspunkt dabei sind oft handgezeichnete Skizzen, die dann gescannt werden oder Bilder und Strukturen, die sie irgendwo entdeckt. Die Bilder, die wie Reklame aus den 50er Jahren aussehen, sind inspiriert von Büchern aus dieser Zeit, die Martina u.a. auf Flohmärkten entdeckt.

Der Computer erlaubt, auch Farben und Formen zu variieren und alle Ideen auszuprobieren, ohne daß große Mengen realer Materialien verbraucht würden.

Sehr typisch für ihre Arbeit ist die Serie 50qm, in welcher ein oder maximal zwei Personen in Situationen, als Schattenriß dargestellt sind. Die einfarbig gefüllte Figurenfläche steht vor einem ebenso einfarbigen Hintergrund.
Verblüffend ist die Wirkung: während man erwartet, daß diese Reduktion und der Verzicht auf Perspektive das Flächige, Zweidimensionale betont, ist das Gegenteil der Fall: Die Figuren durchbrechen die Fläche und erscheinen eher räumlich.

Künstlerinnen und Künstler im Kunstportal Baden-Württemberg: Martina Ziegenthaler
50qm, 2001 | Kunstleder, genäht, 130 x 100 cm
© Martina Ziegenthaler, VG Bildkunst Bonn 2020

Statt Pinsel und Farbe greift Martina Ziegenthaler des öfteren zur Schere, bzw. wenn es sehr exakt sein muss, sogar zum Skalpell: beispielsweise wird eine Figur von einer langen Fransenleiste nach unten verlängert, so daß alleine die Bewegung dieser Fransen die vermeintliche Zweidimensionalität durchbricht.

Es gibt auch dreidimensionale Arbeiten von Martina Ziegenthaler, Skulpturen, die sie aus Regenschirmen baut oder geometrische Körper in Netzen, aber wichtiger erscheinen mir die Arbeiten, die ‚zweidimensional Raum gewinnen‘:

Neben der Reduktion auf Umrisse und Flächen setzt die Künstlerin hierzu ein zweites Mittel ein: Rauten, Punkte, auch zufällige Strukturen, die beim Ausdrucken eines Musters auf Papier oder auf Stoffe entstehen, auch diese durchbrechen die Flächigkeit und schaffen Raum.

In zwei ganz aktuellen Arbeiten verbindet Martina Ziegenthaler diese beiden Elemente auf neue Art: die Fläche der Figur – wieder vor einfarbigem Hintergrund – wird durch senkrecht gestickte Linien, mit reflektierendem Silberfaden, erarbeitet. So entsteht eine ganz besondere Räumlichkeit der vermeintlich flächigen Figur.
Die Figur entwickelt sich aus der Struktur ihrer Oberfläche, Material wird Inhalt.
Aufgrund der dieser besonderen Arbeitsweise innewohnenden Strenge und Exaktheit, die mich erinnert an Kompositionen (Fugen) von Johann Sebastian Bach, bringt Martina Ziegenthaler eine weitere Dimension ins Blickfeld: die Zeit (der Entstehung des Bildes) wird sichtbar: der Arbeitsprozeß.

Während der Eindruck der Eindimensionalität der Welt ja vielleicht nur (m)eine Stimmung ist, ist die Vieldimensionalität der Kunst einmal mehr bewiesen. Unverzichtbar dabei ist die Dimension der Perspektive des Betrachters, der/den die Kunst braucht.

Künstlerinnen und Künstler im Kunstportal Baden-Württemberg: Martina Ziegenthaler
50qm, 2001 | Kunstleder, genäht, 130 x 100 cm
© Martina Ziegenthaler, VG Bildkunst Bonn 2020

Schon vor Jahren hat man versucht, den zu eng erscheinenden Begriff der Bildhauerei zu ersetzen durch den der “Dreidimensionalen Kunst“. Doch auch eine somit erheblich vergrößerte Schublade ist eine Schublade. Diese können wir definieren durch drei Dimensionen (etwa als Quader mit einer offenen Fläche) mehr als drei Dimensionen passen aber leider nicht hinein.

Mit Materialien, Formen, mit Schere und Skalpell – im Grunde sogar alleine durch die Ironie, mit der uns ihre Bilder zu einem zweiten und dritten Hinschauen zwingen, sprengt Martina Ziegenthaler auch die große Schublade. Sie macht sichtbar, daß die Zahl der Dimensionen künstlerischer Arbeit mathemtisch oder geometrisch nicht zu erfassen ist.

Jürgen Linde, Februar 2003