Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar – über Kathrin Haaßengier

Künstlerinnenporträt Kathrin Haaßengier im Kunstportal Baden-Württemberg
Kathrin Haaßengier | © Foto: Künstlerin

Am Freitag, dem 04. Juni 2004 – bei der Pressevorbesichtigung der Ausstellung der MeisterschülerInnen der Karlsruher Kunstakademie in Pforzheim – habe ich Kathrin Haaßengier kennengelernt: bei der Arbeit:
die Ausstellung „TOP 04 MeisterschülerInnen“ der Kunstakademie Karlsruhe wird am Folgetag eröffnet, und während der Pressevorbesichtigung hat Kathrin Haaßengier noch einige letzte Handgriffe zu erledigen, um die Skulptur oder die Installation oder das Gesamtbild “Auferden“ für die Ausstellungseröffnung fertig zu bekommen.

Auferden, 2004 | Polyester, Fliesen, Holz | 6 Teile je 47 x 57 x 249 cm
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Die reichlichen Assoziationen, die sich beim Betrachten einstellen, verführen zu vorschnellen Vermutungen und Interpretationen: natürlich denkt man an Schlachthof, somit an Massentierhaltung und industrielle Fleischproduktion; Themen, die man gerne verdrängt, vor allem, wenn man zu denen gehört, die glauben,daß man eigentlich Vegetarier sein müßte.
Dagegengesetzt die Kacheln aus dem Bereich der häuslichen Hygiene…?
Kathrin läßt, wie sie selbst sagt, „die Zusammenhänge verrutschen“.

Bei einem späteren Besuch bei der Künstlerin erfahre ich, daß tatsächlich ein Besuch des Schlachthofs – die dort an den Füßen hängenden Schweine – konkrete Inspiration war zu dieser Arbeit, die damit längst nicht erklärt ist.

Künstlerinnenporträt Kathrin Haaßengier im Kunstportal Baden-Württemberg
Hängevorichtung zum Lüften, 2004 | Metall, Wäscheleine, Seilklemmen, Schellen, Holz | 182,4 x 125,6 x 258 cm | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Klar ist aber: es geht der Künstlerin nicht um Zivilisationskritik (Thema „industrielle Tierproduktion“);ich stehe nicht vor einer Illustration, sondern vor einem Kunstwerk, vor einem Bild, das mir Fragen stellt. Es geht, scheint mir, um Zwänge, Abhängigkeiten, lebendige Wesen, gebannt durch Fixierungen. In ihrer Begrenztheit als Mensch oder als wehrlose Kreatur dem Menschen verbunden oder ausgeliefert. Doch sicher bin ich mir nicht, die Skulpturen haben eine “eigene Sprache“.

So sind wir nochmal bei unserem Thema, dass es zu dem, was die Kunst ausdrückt, keine (jedenfalls keine vollständige) sprachliche Entsprechung geben kann. Auch Kathrin Haaßengier sagt, dass sie die Themen, die sie bearbeitet, gar nicht exakt zu verbalisieren vermag.

Vielleicht aufgrund der reichhaltigen Fülle von Bildelementen und Formen in Kathrin Haaßengiers Arbeiten fällt mir ein Text ein des großen Bildhauers Eduardo Chillida:

Der Künstler weiß, was er tut,
aber damit es die Mühen wirklich wert sind,
muß er jene Grenze überschreiten und tun, was er nicht weiß,
und in jenem Moment ist er jenseits des Wissens.
Die Kunst ist für den Künstler eine Frage –
Sind am Ende viele aufeinanderfolgende Fragen unsere Antwort?
(aus dem Katalog der Kunsthalle Würth: Eduardo Chillida, erschienen im Swiridoff Verlag 2002)

Künstlerinnenporträt Kathrin Haaßengier im Kunstportal Baden-Württemberg
Opilia, 2003 | Metall, Silikon, gefärbtes Wasser, Pumpe; 65 x 70 x 60 cm
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Diese Beschreibung scheint mir auch auf die Arbeit von Kathrin Haaßengier zuzutreffen, und wieder glaube ich, einen Beleg gefunden zu haben für den “größeren Horizont“, den größeren Ausdrucksbereich der Kunst gegenüber der Sprache:

Bei Kathrin Haaßengier entdecke ich die gesammelten Werke von Ingeborg Bachmann, die einmal sagte, “die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“

„Die Trübung, mag sie bald vergehen, es bleibt die zarte Zeichnung stehen“, 2003 | Metall, Silikon, Nebelmaschine
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Beziehe ich diese Aussage, die ich für bedeutsam und richtig halte, auf die Welt der Sprache, so erscheint sie mir als politische Aussage und somit beschränkt auf einen kleinen Ausschnitt unseres Lebens; vielleicht ist dieser Satz auch ein ästhetisches Postulat.
Beziehe ich dieselbe Aussage aber auf die Kunst im Sinne des obigen Zitates von Chillida, so enthält die Wahrheit, die die Kunst aus der beschriebenen Grenzüberschreitung hervorzubringen vermag, einen Bedeutungsgehalt, der sprachlich eben nicht einzuholen oder erreichbar ist.

So wie sprachliche Äußerungen ja auch von verschiedenen Menschen verschieden verstanden, gewichtet, interpretiert werden, so ist unsere Rezeption künstlerischer Arbeit noch stärker der subjektiven Wahrnehmung überlassen.

„Konatiorin“, 2004 | Kabel, Metall | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Die Reihe der Werke von Kathrin Haaßengier veranschaulicht ihr Arbeitsspektrum, und jeder darf selbst sehen, welche Fragen sich anhand der einzelnen Installationen einstellen; nicht falsch ist wohl der Ansatz, daß es um den eigenen Platz in der Welt geht und dabei auch um die Rolle des Körpers.
Konkretisierungen dieser bewußt vagen Formulierung seien jedem selbst überlassen. Vielleicht sind wir Menschen ja Gefangene, wenn nicht Gefangene der Gesellschaft, so vielleicht – seit die Hirnforschung uns die Freiheit „wegzunehmen versucht“ – Gefangene der Physik und Chemie unseres Gehirns?

Diese Diskussion ist noch nicht ausgestanden, aber Kathrin Haaßengiers Kunst zeigt uns, egal, was die Forschung verkünden wird:
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.
Jürgen Linde im August 2004