Ästhetik der Erneuerung – über Simone Westerwinter

Internet: www.westerwinterwelt.de
E-Mail: ja@westerwinter.de

Die gelernte Bildhauerin Simone Westerwinter arbeitet spartenübergreifend: von Malerei und Zeichnung über Skulptur und Video bishin zu performativen Kunstformen, die dann auch mal an die „soziale Plastik“ erinnern: etwa in Form einer Polonaise durch ihre Ausstellung. Immer wieder erscheinen die Präsentationen der Künstlerin auf den ersten Blick durchaus als unterhaltsam, ja als satirisch.

Simone Westerwinter - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
Simone Westerwinter vor ihrem Gemälde REVOLUTION (MAKE-UP) PALETTE, 2018 (Ausschnitt), Acryl auf Leinwand, 180 x 180 cm, dem Motiv von Einladung und Plakat zu ihrer Werkschau REVOLUTION (MAKE-UP) PALETTE in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen, 2018/19, Foto: Jeanette Bak © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Doch ist dies offenbar Teil des künstlerischen Konzepts, wie die Künstlerin selbst erläutert: „Obwohl ich paradoxerweise vordergründig einen inhaltlich wie formal wenig aufgeräumten Einstieg ins Werk nehme, ist es mein Hauptanliegen, mich der Reduktion und den klassischen Themen Struktur, Raster und Ornament zuzuwenden und sie konsequent modern weiterzuführen.“

Das klingt nicht allzu bescheiden, hochinteressant – und schwierig.
Wenn es uns gelingen sollte, dessen bin ich mir sicher, die hier angesprochenen komplexen Verbindungen zu verstehen, dann sind wir bestimmt wieder ein Stück klüger geworden in Sachen Kunst.

Wie immer arbeiten wir streng intuitiv und beginnen mittendrin – bei der letzten großen Ausstellung der Künstlerin in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen: „Revolution (Make-Up) Palette“

Mit „Revolution (Make-Up) Palette“ erscheint Simone Westerwinter zuerst als Konzeptkünstlerin. Wir zitieren aus ihrem eigenen Katalogbeitrag:

Auch in der Kunst gibt es bei aller Tiefgründigkeit einen Bedarf nach einem frischen Teint. Es braucht die andauernde ästhetische Revolution und immer neue Moden, sonst droht Langeweile. Etwas genauso zu machen wie die geschätzte Tradition geht nicht; die ehemals revolutionäre Geste ist bereits Kunstgeschichte…

Simone Westerwinter - Revolution - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
Simone Westerwinter:Let your fantasy flow. Success is at your side, 2012, Acryl auf Nessel, 200×610 cm, 3-teilig, © Foto: Simone Westerwinter, VG Bildkunst Bonn 2019

Offenbar sind die Grenzüberschreitungen über die Spartengrenzen hinaus der Weg, auf dem Simone Westerwinter forscht. Den Begriff Forschung verwende ich ganz bewusst, denn immer wieder auch erkundet die Künstlerin den Spannungsbereich zwischen (bildender) Kunst und Sprache, der uns weiterhin sehr interessiert.

Die Grenz- oder Genre-Überschreitungen sind bei Simone Westerwinter definitiv kein Selbstzweck, eher geht es um die Suche nach einer Meta-Ebene, auf der die gängigen Genres eine Verbindung haben, die dann sichtbar würde. So entstehen wirklich neue Kunstformen, die wir, bleiben wir beim Stichwort Forschung, durchaus als Neuentwicklungen bezeichnen können. Anhand zweier Beispiele wollen wir diesen Zusammenhang anschaulich machen:

„Sprach- und Laut-Malerei“ nenne ich diese eine der künstlerischen Formen oder Strategien, die Simone Westerwinter als eigenständige Kunstformen entwickelt hat.

Simone Westerwinter - Revolution - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
Simone Westerwinter: Bildhauer, 1994, video (6min), Loop
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Die Laut-Malerei hat die damals schon junge Künstlerin Simone Westerwinter Mitte der 90er Jahre als neues Kunstformat erfunden:

Die Künstlerin zeigt uns Sprache als Skulptur; besser: als Plastik: Unvergessen ihr Video „Bildhauer“ (1994), in welchem sie sich gekonnt und schweißtreibend stotternd, den Namen ihrer Zunft erkämpft: Bi-Bi-Bi-Bi-Bi-Bildhauer; Bi-Bi-Bi-Bi-Bi-Bildhauer…

Wir erleben das Wort als Plastik.

Noch eine Erfindung: Die Entscheidungsplastik:
„Die Installation „Sweet Structures Homemade“ besteht aus einer Art Marktstand, der erstmals 2008 zum Einsatz kam. Dort werden die BesucherInnen gefragt, ob sie frisch zubereitete Zuckerwatte oder ein blaues Auge möchten. Was zunächst als entgegengesetztes Angebot erscheint, ist jedoch bei differenzierter Betrachtung lediglich ein hinkendes Gegensatzpaar…“
Zitat: Isabell Schenk-Weininger

Simone Westerwinter - Revolution - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
Simone Westerwinter: Sweet Structures, homemade, Performanceskulptur (seit 2008), die Künstlerin schminkt den Laudator und Kulturamtsleiter Stefan Benning in ihrer Ausstellung REVOLUTION (MAKE-UP) PALETTE in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen, 2018/19 an der Vernissage. Herr Benning hält anschliessend die Eröffnungsrede mit blau geschminktem Auge. © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Unbestreitbar zelebriert Simone Westerwinter all diese Präsentationen mit Witz und Ironie; ihre permanente Revolution hat durchaus den Charakter einer fröhlichen Anarchie – und eben den ernster Suche. Vielleicht, so denke ich, geht es auch hier um Identität. Um Identität als Künstlerin und auch um Identität des Menschen in einer sich wandelnden Kultur, in welcher alles, was uns sprachlich (ich meine hier: textuell als Schrift oder auch als gesprochene Worte) begegnet, zu einem stetig wachsenden Anteil durch Werbung dominiert wird.

Am deutlichsten wird dies wahrscheinlich in Westerwinters Arbeiten zum Thema JA.

Während Werbung ja immer bejahend, also zustimmend/affirmativ ist, braucht Kunst, wie übrigens auch Wissenschaft und Journalismus, kritische Distanz und Reflexion, um klar sehen zu können.

Simone Westerwinter - Revolution - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
Simone Westerwinter: ohne Titel, 2009, Tusche auf Papier, 21×29 cm, (Entwurf für die Artparade/Parrotta Contemporary Art, Stuttgart, 2009); © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Indem Simone Westerwinter in vielen Beispielen zeigt, wie leer und offen ein „alleinstehendes JA“ ist und wie gleichzeitig ein bewusst mit Inhalt gefülltes gewolltes JA (etwa in Form einer JA-Tätowierung – noch ein typisches Kunstprojekt von Simone Westerwinter) zum Beispiel lebensbejahend und aussagekräftig sein kann, entlarvt sie die Entleerung der Sprache in unserer modernen Medien-Gesellschaft.

Dem entgegen setzt die Künstlerin die permanente Revolution: Ihr lautes JA zum Nein ist ein JA für die Kunst, JA zum Denken.
Die Künstlerin spricht auch von „kariertem Denken“ – Karos als Muster, um Dinge einzuordnen. Dies aber sollten wir durchaus dialektisch betrachten: Treffend schreibt Isabell Schenk-Weininger:
“ ‚Kariertes Denken‘ meint aber ebenso die Begrenzheit der Rationalität, das Schubladendenken und das viel zu schnelle Einordnen von Dingen“.

Dieser mir sehr wichtig erscheinende Aspekt; vielleicht eine „Kritik der Urteilskraft“ aus der Perspektive der Kunst, verbindet nun die revolutionären – insofern die politischen/philosophischen – Aspekte der künstlerischen Arbeit von Simone Westerwinter einerseits und deren ironischen, ja oft verspielten Auftritt andererseits. Wir erinnern uns: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller).

Simone Westerwinter weiß um die Notwendigkeit der permanenten ästhetischen Revolution. Anders als die Lage, die ja nach einem berühmten Zitat „hoffnungslos ist, aber nicht ernst“, scheint es mit der Revolution eher umgekehrt zu sein: ist diese doch ernst, aber mitnichten hoffnungslos.

Simone Westerwinter - Revolution - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
Simone Westerwinter: Sweet Structures, homemade, Performance zur Vernissage REVOLUTION (MAKE-UP) PALETTE, 2018, Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen.
Stefan Benning, Kulturamtsleiter von Bietigheim-Bissingen hatte die Wahl zwischen Zuckerwatte oder blauem Auge. Er entschied sich für ein Make-up-Gemälde, ausgeführt von Simone Westerwinter, und hielt damit revolutionär heldenhaft die Eröffnungsrede.
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Zum Glück ist Kunst nicht Politik, denn dort sollten wir ja mal entscheiden: „Freiheit oder Sozialismus?“ Mit Simone Westerwinter stellt uns die Kunst vor ungleich schwierigere Fragen: Zuckerwatte oder Blaues Auge?

Im Hinblick auf die oft genug ja zwiespältigen gesellschaftlichen Revolutionen verzichtet die Künstlerin auf konkrete Prognosen. Sicher aber ist für Simone Westerwinter, dass die permanente Revolution in der Kunst nicht enden wird; zweifellos verdankt die Kunst ebendieser einen wesentlichen Teil ihrer Lebendigkeit.

Ich möchte versuchen, anhand der Kunst von Simone Westerwinter das Verhältnis von Kunst und Politik etwas genauer zu betrachten und verweise dazu auf den schon anfangs verlinkten Exkurs:

Revolution – Simone Westerwinter und die Politik
Revolution – zweifellos ein Begriff, den wir der Politik zuordnen. Unsere StammleserInnen wissen, dass ich Kunst, die explizit politisch ist (etwa mit Wahlkampfplakaten oder dergleichen) gar nicht schätze.
Stattdessen ist gute Kunst fast immer auch politisch, insofern, als sie uns nicht nur oft zeigt, was der Fall ist, sondern, dass es auch ganz anders sein könnte. Philosophen nennen dies Kontingenz.

Wenn wir uns mit der Arbeit von Simone Westerwinter beschäftigen, geht es mir daher auch um die Frage, ob und inwieweit diese Künstlerin, die immer wieder auch Begriffe und Gesten aus der Politik verwendet, hier politisch ist. Geht es der Künstlerin „nur“ um eine (satirische?) Behandlung des Themas Politik aus künstlerischer Sicht oder betreibt sie (klammheimlich, laut und bunt?) die Revolution?

Simone Westerwinter - Revolution - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
60 Namensaquarelle als Unternehmensportrait (Auswahl), 2001, Aquarell auf Bütten, je 70×100 cm, gerahmt, Daimler Art Collection, Mercedes-Benz Museum, Stuttgart, 2011 | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Ganz ohne Zweifel ist für Simone Westerwinter die Kunst auch gesellschaftliches Engagement, mit ihrer Arbeit zeigt sie die Entleerung der Sprache, macht den Verlust von Inhalt sichtbar. Das ist eminent politisch und wie so oft in der Kunst geht es hier auch um Freiheit:
Sicherlich gibt es politische Situationen/Zustände, etwa in Militärdiktaturen, in denen der Einsatz für Freiheit die politische Revolution notwendig macht.
Der sehr politische Schriftsteller Peter Weiss hat hierzu die schöne Formulierung „Ästhetik des Widerstands“ gefunden.

Simone Westerwinter zelebriert in ihrer Arbeit, dass in der Kunst Freiheit möglich – und wesentlich – ist. Und sie zeigt uns, dass es notwendig ist für die Kunst (und für die Gesellschaft) hier in der Kunst die permanente Revolution zu pflegen. Auch insofern ist Kunst Politik.
So empfinde und verstehe ich Simone Westerwinters Kunst eben als Konzeptkunst – das Konzept nenne ich:

Ästhetik der Erneuerung.

Jürgen Linde im September 2019




: