Harald Schwiers über Harald Herr
Beitrag aus dem Katalog „Harald Herr 1951 – 2003“ zur Ausstellung im BBK;
© Harald Schwiers, 2005
Mit wem anfangen? Über wen schreiben? Den Karlsruher Künstler Harald Herr? Den engagierten Verbandsfunktionär (welch schreckliches Wort!), der seine eigenen künstlerischen und menschlichen Interessen dem Wohl der Kollegen stets unterordnete? Über den Wegbegleiter, mit dem man manche Probleme, viele glückliche Momente, eine Zeit lang die Sozialräume und auch das einzige Frühstücksei oder den allerletzten Tropfen Benzin teilte? Über den Freund seit den Tagen der unbeschwerten Kindheit im damals noch nicht ganz zugebauten Mühlburg?
Keine leichte Aufgabe. Zu viel hängt dran, zu viel steckt drin. Und wie das bei liebenswerten Menschen eben so ist, man kann das eine nicht vom anderen trennen, ohne dem Charakter nicht gerecht zu werden. Sich an der chronologischen Leiter entlanghangeln, das ist in diesem Fall auch keine wahre Hilfe. Mit hübschen Kindheitserinnerungen langweilen schon genug andere auf dem Buchmarkt. Nostalgische Rückblicke auf selige Zeiten mögen schön und gut sein, sie führen jedoch nicht viel weiter. Es sind andere Bilder, die das Andenken an den Menschen (Künstler, Freund, Weggefährten) Harald lebendig erhalten. Damit geht es mir wie vielen…
Bilder, natürlich auch die an der Wand, aber um die von Harald in über 30 Jahren geschaffene Kunst geht es hier nicht. Zumindest nicht vordergründig. Diese Bilder setzen ein mit dem Fotografen Harald Herr, beinhalten nächtliche Sitzungen in der selbst eingerichteten Dunkelkammer. Der Handwerker Harald, immer auf Perfektion bedacht, immer wieder zu neuen Versuchen geneigt, immer aber auch mit der Flexibilität, experimentelle Techniken auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Dieses innere Foto, von dem es reichlich Abzüge in ganz unterschiedlichen Variationen gibt, schwarz/weiß und farbig, ist der Anfang einer ganzen Serie. Die zieht sich durch das Leben Haralds. Zufälligerweise sind seine ersten künstlerischen Arbeiten, Fotografien, Folgen, thematisch oder technisch strukturiert und komponiert.
Etwa die Serie „Handwerker“. Bilder zeigen den Künstler auf Märkten, Kinder und Erwachsene zu Linolschnitten anregend. Schneiden, färben, drucken. Da macht man sich schon schnell mal die Finger schmutzig. Aber das Bild zeigt auch fröhliche und lachende Menschen, mit ihren „Kunstwerken“ in der Hand. Wieder einmal etwas gemacht, was man schon lange vergessen hatte (die Erwachsenen), Spaß gehabt und etwas dazugelernt (die Kinder).
Das nächste Stück in der Serie – nicht unbedingt chronologisch – zeigt Harald wieder in „Arbeitskleidung“, sprich in der unvermeidlichen Latzhose. Über Jahrzehnte war es – für mich – dieselbe. War es natürlich nicht, aber alle wiesen identische Merkmale auf: Dicke Brusttasche. Das notwendige Werkzeug. Bleistifte sind drin, Zigaretten, Feuerzeug, viel Sammelsurium und anderes: Ein umfangreiches Büchlein, in das alles Wesentliche eingetragen werden kann. Und es kam auch viel rein. Die Szene: Der Kulturmarkt. Den hat Harald über Jahre hinweg als BBK-Vorsitzender mitgeprägt. Das heißt, um genau zu sein: Es sind zwei Bilder, die aber irgendwie zusammengehören, nicht unbedingt zeitlich, aber motivisch. Das eine zeigt ihn mit einer Siebdruckmaschine und dem Rakel, das andere – offenbar etwas später eingeprägte – mit Kamera, PC und Drucker.
Dazwischen immer wieder das Motiv mit der Lostrommel. Kunst sollte für jedermann begreifbar sein, fassbar sein, verständlich sein. Das ist das eine. Das andere ist: Kunst sollte käuflich sein. Auch für jeden. Also auch mit Losen. Und viele gewannen, denn ich glaube fast, Harald hat aus dem Lostopf sämtliche Nieten per Hand im Vorfeld aussortiert und sollte doch noch eine im Topf gewesen sein, dann durfte der Loskäufer noch einmal ziehen. „Persönliches Pech – gehen Sie über Los – ziehen Sie noch eines“, könnte er gesagt oder zumindest gedacht haben. Der „Kulturbeutel“, eine geräumige Papiertasche mit entsprechendem Aufdruck und Platz für Grafik in mittlerer Größe, gehörte mit zu seinen Ideen.
Weiter in der Bilderfolge begegnen wir dem Künstler, wieder in der Latzhose, als Lehrer. Nicht nur in den Werkstätten des BBK bei Kursen in diversen Drucktechniken, sondern auch in der Carl-Hofer-Schule. Und wir treffen einmal mehr den Handwerker, den Drucker, dem die Farbe an den Fingern Zeichen des uralten Berufsethos’ ist. Mit der Hand wird gearbeitet. Das schließt Herz und Hirn mit ein.
Nahaufnahme: Ein anderes Bild, auch Teil einer Serie, nicht unbedingt das erste Motiv, aber doch weit vorne, zeigt ihn in der Staatlichen Kunsthalle, in der Orangerie. Kurz nach dem Eingang, rechte Seite. Noch bevor die Moderne seinerzeit anfing. Sonntags, wochentags. Vor einem Bild. Lange. Es ist Ferdinand Kellers „Böcklins Grab“. Zitat der „Toteninsel“ Dieses „Erinnerungs-Foto“ gibt es mehrfach. Bei ganz unterschiedlichen Lichtverhältnissen. Und plötzlich tauchen auch Postkarten mit Böcklin-Abbildungen auf. Allmählich verschwinden diese geistigen Bilder, wenn auch nicht ganz. Sie verschmelzen zu einem Multimedia-Spektakel der frühen Form und vereinigen sich mit Tönen. Gespräche. Viele. Zu allen möglichen Tageszeiten. Das heißt auch zu Nachtzeiten. Häufig nächtens.
Neue Bilder zeigen Harald in vielen anderen Kunststätten, in Karlsruhe, in Baden-Baden, in München. Interessantes, weniger Interessantes, aber immer Anregendes. Etwa Steckbilder. Und wieder Gespräche. Auch beim Frühstück. Zwischen den Tellern Eierschalen. Oder eine Feder. Aber das sind keine Zufälle. Ebenso wie die vielen Stifte. Blätter allüberall. Solche und solche. Frühstück auch auf amorphen Figuren, als Kachel oder Teller getarnt, die Kuhle für das – ganze – weiche Ei (manchmal waren auch zwei oder mehr da) schon eingebaut, eingetöpfert. Der integrierte Eierbecher. Mit der Hand gemacht, mit Herz.
Leicht angegilbte Bilder zeigen ihn auf einem Moped durch die Weststadt brausen. Mit 50 Kubik. Ohne Führerschein. Anfangs. Aber mit Begeisterung. Und hinten drauf ein anderer. Auch ohne Führerschein. Aber auch ohne Moped. Dann ein Szenenwechsel, aber derselbe Tag. Sonne und Rhein. Die Steine riechen. Der Fluss auch. Glückliche Momente, in einem Gedicht festgehalten. Dazu Beatles und Stones, Who – „I’m free“ – später auch Zappa.
Plötzlich die Rückblende. Ein kleiner Harald im Hof des – wohl – elterlichen Anwesens, mit winzigen Autos spielend, den Schuhkarton mit dem wertvollen Inhalt immer im Auge behaltend. Sammler schon früh. Dann am Bahndamm. Nachmittage auf dem Hauptbahnhof oder an der Wasserwerkbrücke im Gebüsch. Train spotting, immer mit Stift und Block in der Hand, immer bereit, die Nummern vorbeibrausender oder rangierender Loks aufzuschreiben. Manche kamen – logischerweise – häufig im Verlauf eines Nachmittags. Notiert wurden sie immer. Was aus den Blättern mit meist fünfstelligen Zahlenkolonnen geworden ist? Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, sie existieren noch. Nicht nur auf dem Bild. Sammler, genauer: Horter auch später.
Schnitt. Andere haben auch Bilder. Teils bekannte, teils neue. Bodo George Kraft, einer aus der kleinen Clique der frühen Beatles-Stones-Who-Hörer, als die Hitparade noch nicht erfunden und Charts ein Fremdwort war. Bodo berichtet von „Haralds unglaublicher Beharrlichkeit“, bei der es nicht darauf ankam, ob ein Bild in zwei oder drei Jahren fertig wurde oder gar nicht. Das passt ins Bild. Welcher Sammler, egal ob von Modellautos und –eisenbahnen, Kunst, Papieren oder Nummern kommt ohne Beharrlichkeit aus? Gerade das macht den Liebhaber und Connaisseur aus. Ein sozialverträgliches Maß Sturheit. Unser Foto zeigt unfertige Bilder, vor über einem Jahrzehnt angefangene Bilder, komponiert, teilgrundiert, angerissen, partiell detailgetreu ausgeführt – aber irgendwann ging die Zeit aus. Schon vor geraumer Zeit.
Bodo Kraft hat noch ein anderes aussagefähiges Bild, Haralds Schriftbild. Das liegt auch an den äußeren Umständen, denn er lebte lange Zeit nicht in Karlsruhe. Damals gab es noch so etwas wie Post. Harald schrieb. Nach Stuttgart, nach Amsterdam, nach Bremen. Und er fand dazwischen immer noch Zeit für seine Aus- und Weiterbildung, für seine künstlerische Arbeit, für Erledigungen (etwa Bodos Bilder bei Galerien oder Kunstvereinen abzugeben und wieder abzuholen), für seine Familie und für seine Freunde. Die Briefe existieren noch (es sind wohl eine ganze Menge) und harren der weiteren Auswertung. Sie vermitteln nicht nur ein deutliches Bild der Lebenssituation, sondern auch Themen, die den Menschen und Künstler Harald beschäftigten:
„…Seit Deiner Abfahrt, lieber George, habe ich also vier Bilder 100 x 120 cm gemalt. Da sie nicht so persönliche Probleme enthalten, war es etwas ganz Neues. Der Reiz der Strukturen und Oberflächen, das Gestalten, feinste Farbnuancen standen im Vordergrund. Ähnliches habe ich bislang nur in der Fotografie erlebt, die aber mir nicht diese Möglichkeiten gibt, die ich in der Malerei besitze. Dafür zwar andere, das liegt ja auch in der Natur der Technik, wenn man das so sagen kann. Ich habe eine größere Distanz zu diesen vier Bildern, so daß ich sie auch notfalls verkaufen könnte, es wäre sogar gut, eines zu verkaufen, da meine finanzielle Lage recht beschissen ist…“
„…überhaupt sollte ich mehr Zeit für die Kunst haben. Neulich war in Ettlingen eine Ausstellung mit Totentanzdarstellungen der letzten 5 Jahrhunderte, eine ausgezeichnete Ausstellung, sehr vielseitig und gut sortiert. Beim Betrachten der Radierungen und Tuschezeichnungen brannte es mir geradezu unter den Nägeln, mal wieder etwas in dieser Richtung zu machen…“ (Auszug aus: Brief an Bodo Kraft, Amsterdam vom 12. 9. 1977).
Ja, natürlich, Ettlingen. Das kleine Katalogbändchen steht im Schrank. Ein Griff. Der Totentanz war eines unserer wenigen gemeinsamen künstlerischen Themen von großer Faszination. Ich hatte Jahre zuvor Bekanntschaft mit Grieshabers Zyklus und anderen Arbeiten gemacht und schwärmte, auch von Basel. Äußere Bilder, denen eine gewisse Oberflächlichkeit anhaftet. Haralds Fassung des „Totentanzes“ gab es allerdings schon, in etwas abgewandelter Form, als frühe 12teilige Fotoserie. Sozusagen eine Art Grundierung.
„Wir haben uns eigentlich nie über Haralds Arbeiten auseinandergesetzt“, blickt Bodo Kraft zurück, „technisch schon, inhaltlich nicht.“ Damit kein falsches Bild entsteht: Das war kein „gentlemen agreement”, kein erkämpftes Schweigen, sondern resultiert aus der völlig unterschiedlichen inneren Motivation zu malen. Die entzieht sich jeglicher Wertung. Und sie zeigt sich – versteckt – etwa in der strikten Ablehnung Haralds, ein Bild, falls nicht 100prozentig gelungen oder inhaltlich bzw. stilistisch veraltet, einfach zu übermalen. Für Bodo Kraft eine Selbstverständlichkeit, über die nicht lange nachzusinnen ist. Bewahrer auch hier.
Harald Herr: ohne Titel, 1982
Das Bild: Ein Atelier, einige Leinwände fertig, einige grundiert, viele angefangen, dazu Grafiken, Radierungen, Lithografien, teils koloriert, teils schwarz/weiß, Zustandsdrucke, Buntstifte, Hunderte von Pinseln, Farbtöpfe, Gläser mit frischem Wasser, gebrauchten Wasser, Gläser mit eingetrockneten Wasserrändern und Farbresten. Vertrocknete Blumen. Fast ein Stilleben. Tatsächlich ein Stilleben. Mit Geruch. Dazu das obligate Glas Cola. Dazwischen, im Bühnenbild seines Lebens, der Sammler, der Horter, auch der unvollendeten Arbeiten. Irgendwo eine Leinwand, angefangen versteht sich, ein Riesending, für dessen Transport man mindestens einen 3,5-Tonner-Lkw benötigt. Der Weg ist das Ziel und dazu gehört auch der Kampf. Jeden Tag:
„…Jetzt möchte ich auf Deinen letzten Brief eingehen, guter Freund.
Die Lithos, bis jetzt 3 Steine = 3 Motive im Schwarzdruck, sind für den Anfang recht befriedigend. Natürlich kann von einer Beherrschung der Technik noch lange nicht die Rede sein, zumal ich, laut Müller (Leiter der Lithografie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe, Anmerkung B. Kraft) gleich das Schwierigste anging. Volle, tiefe und große Flächen, dazu feine Linien und Töne, und dann noch in verschiedenen Techniken.
Die möglichen Mittel Kreide und Tusche (von mir mit einem Spezialkugelschreiber „ergänzt“) verlangen eigentlich unterschiedliche Ätzung, daher ist die Kombination etwas schwierig.
Da ich die Lithos mehr zur Vervielfältigung diverser Ölbilder benutze, denn als eigenständiges Medium, ist das Sujet auch klar: Eierschalen.
Mit der Eierschale habe ich halt ein Thema gefunden, das mehrere Eigenschaften besitzt: es interessiert und fasziniert mich, (was ja das Wichtigste ist) ich kann mich damit beschäftigen und zeitweise Probleme beiseite schieben, es kommt meinem symbolischen und mystisch-realen Bildinhalten entgegen, besitzt die mir eigene Ästhetik, Form- und Farbgebungsmöglichkeiten, und vieles mehr…“ (Auszug aus: Brief an Bodo Kraft, Bremen vom 8./9. 12. 1978).
Ein neues Motiv taucht auf. Auch ein Motiv, das wie Haralds Ölbilder als Lithos vielfältig sich geradezu aufdrängt. Wieder die Latzhose, wieder das dicke Büchlein, die Stifte, eine Strichlupe. Aber der Künstler und Freund ist nicht am Malen, beim Drucken oder Zeichen, eher beim Scheibenputzen, beim Schneiden mit dem Papiermesser, beim Ausmessen. Er geht Leitern rauf und runter. Und wieder rauf und runter. Bilder werden gerahmt, passepartouriert, gehängt, umgehängt, notfalls auch mal wieder neu gerahmt. Der Ort: Die Galerie des BBK im Künstlerhaus. Die Zeit: Egal, Tag oder Nacht. Eher Nacht. Das Bild zeigt den Freund beim Dienst an Freunden. Nicht allein, aber mit allmählich anwachsender Verantwortung, die mehr nach sich zieht. Und an ihm zieht. Drücken gilt nicht. Ein schräges Bild? Ja und nein. „…überhaupt sollte ich mehr Zeit für die Kunst haben.“
Harald Schwiers, im November 2004