Ulf Cramer:
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Telefon: 0721/34216
Der Galerist Alfred Knecht hatte mich schon vor längerer Zeit auf die Arbeit von Ulf Cramer aufmerksam gemacht; schon der Katalog, den er mir gab, begeisterte mich. Seit ich Ulf Cramer dann – eben in der Galerie Knecht – persönlich kennengelernt habe, treffen wir uns immer wieder – meist bei Ausstellungen, über die wir dann sprechen, um bald zu grundsätzlicheren Fragen zu gelangen. Etwa dem Zusammenhang zwischen Bildender Kunst und Musik.
Dieses Thema möchte ich mit dem Aspekt Bewegung verbinden, der im letzten Künstlerinnenporträt zentral war. Denn die Bewegung, wie ich sie in Ulf Cramers Zeichnungen empfinde, ist eine musikalische: Eine bestimmte Chiffre, eine kleine Zeichnung, ein Zeichen, ein Ornament, erscheint immer wieder, wird wiederholt, oder besser noch variiert – so wie das Thema eines Stückes in der Minimal Music – die Musik macht ihre Bewegung zum Thema, zum Gegenstand.
Die Variation des kleinen Musters ergibt ein großes Muster, ergibt ein Bild, das auf geheimnisvolle Weise der kleinen Struktur entspricht, aus der es entstanden ist. Diesen Prozeß des Zusammensetzens verstehe ich hier als Bewegung wie die Zeichenbewegung zur Erzeugung des einzelnen, kleinen Zeichens.
(bei allen nachfolgenden Bildern handelt es sich um Federzeichnungen; Tusche auf Papier)
Ulf Cramers Material sind der Stift und die Feder – Bleistift, Farbstift und Tusche. Wir müssen die Chiffren, mit denen er seine Arbeit beginnt und deren Gestalt er entwickelt, auch als eine (bereits vermittelte) Form des Materials sehen.
Wer sich vorzustellen versucht, wie und mit welcher Kleinstarbeit diese Zeichnungen entstehen, versteht sofort die zwingende Logik dieser Vorgehensweise.
Das Ergebnis ist mehr als die Summe seiner Teile, und so wie die Chromosomen in jeder Körperzelle den „Bauplan“ des ganzen Körpers enthalten, enthalten auch die einzelnen Felder und Linien bereits das Potential des organischen Ganzen in ihrer vom Künstler geschaffenen neuen Verbindung.
„Trennen ist Verbinden“, und wenn das Ergebnis so gut gelingt, wenn ein Kunstwerk entsteht, welches uns berührt und bewegt, dann hat der Künstler das Material so gut komponiert, neu verbunden, wie es eben nur ein Künstler kann, der die Potentiale – vielleicht können wir sogar von Gesetzen sprechen – seines Materials verstanden hat, intuitiv oder analytisch.
Die Freiheit in der künstlerischen Gestaltung setzt ja gerade die intensive und genaue Auseinandersetzung mit dem Material und dessen Möglichkeiten (und Grenzen) voraus. Die virtuose Beherrschung des Werkzeuges ist die Bedingung der Möglichkeit, um das Material nach den eigenen Ideen zu formen; dies gilt für Malerei und Bildhauerei genauso wie für die Musik.
Dies gilt sogar für die Lebenskunst, deren Material das Leben ist (wie Michel Foucault treffend analysierte). Wenn ich mir über meine Möglichkeiten im Leben Illusionen mache, werde ich wohl scheitern, wenn ich sie richtig einschätze, kann ich sie weiterentwickeln und mein Leben gestalten.
Ulf Cramer vermag es, mit einfachen Werkzeugen wie Buntstiften, manchmal Ölkreide, meist aber Tuschen, überwältigende Farbräume zu schaffen, die wir „normalerweise“ von Zeichnungen nicht erwarten. Auch wo keine farbigen Tuschen verwendet werden, entstehen hier oft farbige Wirkungen.
Dazu Ulf Cramer:
„Während meines Studiums bei Prof. Kitzel an der Kunstakademie Karlsruhe habe ich mich von der Malerei zur Zeichnung hinentwickelt. Bei Prof. Kalinowski hat sich diese Richtung gefestigt. Die Formensprache und die graphischen Mittel wurden nicht verändert, sondern weiterentwickelt. Im Material selbst, im mikroskopisch Kleinen, finden sich die Strukturen, die durch die Gestaltung im Großen dann erfahrbar werden“.
Die Erkenntnis der Möglichkeiten des Materials durch den Künstler findet ihre Bestätigung oder Spiegelung beim Betrachter.
Wieder zeigt sich, und Ulf Cramer hat mir dies aus seiner künstlerischen Sicht bestätigt, daß die Rezeption des Betrachters ausgesprochen wichtig ist, weil erst sie den künstlerischen Prozeß abschließt oder vollendet.
Was Ulf Cramer in der kleinen Struktur entdeckt, während er sie entwickelt, wird für uns sichtbar im organischen Ganzen seiner fertigen Bilder. Wie lange es jeweils braucht, bis die Struktur ihren bildhaften Ausdruck gefunden hat, ist zunächst völlig offen. Sehr wichtig ist es für Ulf Cramer, seine Bilder immer wieder zu „zerstören“: Das bedeutet, dass er ein bestimmtes im Zeichenprozess erreichtes Stadium des Bildes verwirft, es überzeichnet, dann neu ansetzt – bis irgendwann der Punkt erreicht ist; an dem das Bild fertig ist, an dem die organische Form der inneren Struktur des Materials gerecht wird, ihr Ausdruck verleiht. Dies könnten wir „Befreiung des Materials“ nennen.
Die kleinen Zeichen oder Chiffren haben eine wichtige Bedeutung auch für den oben erwähnten Zusammenhang zwischen Bildender Kunst und Musik. Gerade bei den farbigen Arbeiten wird deutlich: Die Zeichen durchbrechen die farbigen Flächen, erzeugen ein Flirren, eine Bewegung, die wir leicht klanglich zu assoziieren vermögen: Die Zeichen bringen die Farbe zum Klingen, sie schaffen hörbaren Raum.
Jürgen Linde, 2002