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Die Wahrheit des Farbraums – Gedanken zur Arbeit von Norbert Huwer
Gestern erst hat mich Norbert Huwer besucht und einen Katalog mitgebracht mit Bildern seiner aktuellen Arbeiten und einen Stapel Fotos von früheren Arbeiten.
Norbert Huwer wußte, daß ich gerade etwas im Zeit-Stress war. Wie ein guter Arzt bringt er dagegen Medizin mit: eine Flasche Rotwein (Côtes du Luberon), die wir gleich öffnen und dann seine Bilder ansehen. Schon sind wir mittendrin im Farbraum. Obwohl ich Norbert nun schon seit ein paar Jahren kenne und auch dieses Künstlerporträt schon lange geplant war, bin ich doch fasziniert von der Welt ganz eigener, vorbildloser Formen und den Farbskulpturen, die scheinbar schwerelos im Raum schweben.
Raum und Klang – musikalische Assoziationen drängen sich auf – die Bilder erklären dies besser als meine Worte. Dazu noch eine konkrete Verbindung: Vormittags war Pressevorbesichtigung zur Ausstellung des berühmten baskischen Bildhauers Chillida in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall.
„Die Skulptur ist die lautlose Form der Musik“ schreibt dieser. Jetzt, angesichts der Bilder von Norbert Huwer, glaube ich es zu verstehen – wobei der Begriff „Klangfarbe“ hier keine Wortspielerei ist, sondern ganz konkret wird.
Wie auch andere hat Norbert von der Malerei her seine heute ausschließlich dreidimensionale Kunst entwickelt; wobei er den Zusammenhang auf einfache Weise herstellt: Die in den Raum gebogenen, sphärischen Formen bilden sogenannte Minimalflächen aus, wie sie entstehen, wenn man eine geschwungene Drahtform in Seifenlauge taucht.
Mit seinen aktuellen Arbeiten kommt Norbert scheinbar wieder ein Stück zurück zur Malerei; auf den ersten Blick könnte man die Stegplatten für Bilder halten; „Bildobjekte“ ist wohl der geeignete Ausdruck. Doch wie wir noch genauer sehen werden, liegt hierin keine „Rückkehr zur guten alten Malerei“, sondern eine Fortentwicklung: Immer differenzierter wird Huwers Auseinandersetzung mit dem Raum, die Stegplatten zeigen dies in verdichteter, in hochkonzentrierter Form.
Wieder können wir anknüpfen an frühere Überlegungen, die wir zu den „Kunst-Elementen“ Licht und Sehen entwickelt hatten: Bruno Kurz hatte uns mit seinen schwarzen Wasserspiegeln gezeigt, wie das Licht im engeren Sinne der Farbe (als Reflexion des Lichts) vorausgeht; bei Peter Gather lernten wir, daß wir sehr bewußt und sehr genau hinschauen müssen, um wirklich zu sehen, da wir sonst leicht Täuschungen unterliegen. Beiden Künstlern gemein ist, daß sie das Sehen als aktiven Prozeß verstehen und insofern den Betrachter in ihre Arbeit integrieren.
Bei Norbert Huwer – und insbesondere bei seinen neueren Arbeiten – kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der von zentraler Bedeutung ist: die Perspektive des Betrachters – zuerst im ganz konkreten Sinn: schon bei den Raum-Licht-Objekten, die sich aufgrund der Thermik mit meditativer Langsamkeit im Raum bewegen, ist bei jeder Veränderung des Blickwinkels das Bild immer ein anderes (wie bei einem Fluss); bei den neuen Arbeiten wird dies noch klarer: während die bemalten Stegplatten selbst unbewegt bleiben, führt jede seitliche Bewegung des Betrachters zu einem anderen Seheindruck: das Bild, das man schräg von links sieht, ist ein fast vollständig anderes, als wenn man von rechts auf das Bildobjekt blickt.
Natürlich verweist diese sehr konkrete Veranschaulichung der Bedeutung der Perspektive auf die Relevanz der Wahrnehmung, auf die Sichtweise des Betrachters insgesamt.
Als Analogie fällt mir der Film „Rashomon“ von Akira Kurosawa ein: hier wird ein und dieselbe Geschichte von drei Personen des Films aus deren jeweiliger Perspektive geschildert. Es enststehen drei Geschichten, die sich gegenseitig zwar nicht logisch widersprechen, aber doch völlig verschieden sind oder zu sein scheinen. Mit dem Stichwort Film fällt mir eine weitere Analogie ein: zur Perspektive bei der Bildbetrachtung gehört beim Film der „Point of view“; auch dieser hat mehrere Bedeutungen: zunächst die Kameraperspektive, dann aber auch die Erzählperspektive und die Betrachtungsweise insgesamt, was eine bestimmte politische oder weltanschauliche Sicht beinhalten kann.
Im Beispiel unten veranschaulicht Norbert Huwer, welch ausserordentliche Relevanz die Perspektive hat:
Wenn nun aber das, was wir sehen – hören, fühlen, verstehen, glauben – so stark von unserer Perspektive abhängt, die sich ja ändern kann und sich tatsächlich immer wieder ändert, so stellt sich die Frage nach der Wahrheit überhaupt. Gibt es eine „objektive“ Wahrheit oder handelt es sich bei dem , was wir dafür halten, vielleicht nur um eine Verständigung im Habermas’schen Sinne über eine (jetzt und hier für unsere Gesellschaft) gültige Beschreibung?
Schon Heinrich von Kleist war seinerzeit erschrocken, als er der Relativität der Wahrheit gewahr wurde, nachdem er Kants Philosophie kennengelernt hatte. So schrieb er in einem Brief an seine Braut Wilhelmine im März 1801:
„Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblickten, s i n d grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“
(zitiert aus: Curt Hohoff: „Kleist“; rororo Bild-Monographie, 1958, Seite 30)
„Ich verändere mich selbst, und somit ändert sich die Welt um mich herum.“ So oder ganz ähnlich jedenfalls formuliert Norbert Huwer selbst die zentrale Erkenntnis, die er unter anderem vermitteln möchte. Für mich ist in dieser Sichtweise auch eine Aufforderung enthalten: wir sollten womöglich immer wieder neue Perspektiven ausprobieren, uns weiterentwickeln, also auch in Bewegung bleiben und nicht stagnieren. So erschließt sich uns immer wieder eine neue Welt des Sehens.
In der Bewegung liegt eine eigene Wahrheit, die insofern frei ist, als sie keiner Absolutsetzung bedarf: Das Kunstobjekt, das ich jetzt in diesem Moment sehe, aus meiner momentanen Perspektive, vermittelt mir eine Wahrheit, die bleibt, auch wenn sich das Bild verändert –
die Wahrheit des Farbraums.
Jürgen Linde im Dezember 2001