Die Straße – über Johanna Locher



Johanna Locher
– Zeichnung, Photographie, Gedichte –
So lapidar steht es auf dem kleinen Katalog, den die Künstlerin als Meisterschülerinnenkatalog vorlegt. Bei der Ausstellung „TOP_0019 Meisterschüler*innen und die Sammlung der Städtischen Galerie Karlsruhe im Dialog“ sehe ich erstmals Arbeiten von Johanna Locher, die gerade als Meisterschülerin ihr Kunststudium in Karlsruhe abgeschlossen hat.
Diesen Katalog gibt es auch online als PDF-Datei

Johanna Locher: Randgebiete eines Ozeans – Ansicht 5
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

In unserer Serie der KünstlerInnenporträts versuchen wir ja, gemeinsam der Kunst immer näher zu kommen; auf manchen Pfaden geht es immer wieder weiter, oft geraten auch neue Perspektiven, neue Zugangsweisen in den Blick. Besonders schwierig, aber dann auch manchmal besonders erhellend erscheint es mir, in der Arbeit von KünstlerInnen, die in mehreren Sparten arbeiten – also etwa Musik und Malerei oder Lyrik und Malerei/ Zeichnung etc. – einen roten Faden zu suchen und vielleicht gar zu finden. Johanna Locher ist ja mit Zeichnung, Photographie und Gedichten gleich auf drei Feldern unterwegs.

Da ich selbst schreibe, ist es womöglich ein Vorurteil, doch glaube ich, in der sehr eigenwilligen Lyrik von Johanna Locher den richtigen Zugang zu der Arbeit der jungen Künstlerin zu finden. Gerade habe ich bei Karl Ove Knausgård, im 6. Band der qualitativ und quantitativ überwältigenden Autobiographie (“Min Kamp“) einen Gedankengang gefunden, der mir Johanna Lochers Arbeit näher bringt. Knausgård schreibt ja immer wieder über Kunst; hier über den norwegischen Schriftsteller Jon Fosse:

Johanna Locher: Randgebiete eines Ozeans – Ansicht 1
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019 | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

„Fosse ist ein Schriftsteller, der die Welt zunächst beschrieben hat, wie sie ist, seine ersten Romane mit ihren kleinen, unvermeidlichen Dingen und Verhältnissen voller Neurosen und Ängste sind ein sozialrealistischer Albtraum, nun beschreibt er die Welt, wie sie eigentlich ist, dunkel und offen. Die Entwicklungslinie in seinem Werk verläuft von der Welt, wie sie in einem Einzelnen sein kann, zu der Welt, wie sie zwischen uns ist. Daraus folgt die Hinwendung zu Gott und dem Göttlichen. Alle, die sich mit den Bedingungen der Existenz auseinandersetzen, landen früher oder später genau da. Das Menschliche hat eine innere und eine äußere Grenze, und dazwischen liegt die Kultur, in der wir für uns selbst sichtbar werden.“ Karl Ove Knausgård: Kämpfen, S. 14/15; 1. Aufl. Luchterhand 2017)

Allgemein gesprochen führt in diesem Paradigma das künstlerische Schaffen und Denken also zwangsläufig zur Transzendenz.

Hier, glaube ich, befindet sich Johanna Locher. Längst betrachtet sie die Welt der kleinen Dinge, der unmittelbaren Anschauung, vor dem Hintergrund existenzieller Grundfragen.

Insbesondere in ihren fotografischen Arbeiten sehen wir, wie die reale (im Sinne einer gegenständlichen) Welt sich mit Fragen der Zeit und der Vergänglichkeit verbindet, so dass Wahrnehmung und Gegenstand eins werden. Die Welt, wie sie für uns ist, ist viel komplexer, als sie in einer rein sachlichen (Bild-) Sprache dargestellt werden könnte.
Auch Johanna Lochers zeichnerische Arbeit findet in eben diesem schwierigen Bereich statt.

Johanna Locher - Künstlerinnenporträt im Kunstportal Baden-Württemberg
Johanna Locher: Randgebiete eines Ozeans – Ansicht 2
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Und es sind Johanna Lochers Gedichte, mit denen die junge Künstlerin inhaltlich wie formal am weitesten voranschreitet. Der Mensch, als Ich-Erzähler oder allgemein als (handelnde) Person wird hier reduziert, nein, eigentlich: erhöht zu einer fiktiven Figur. Wie etwa eine Theaterfigur, die, wenn sie gut ist, zeitlos wird. So wie wir ja etwa an Shakespeares Macbeth oder Kleists Michael Kohlhaas denken können wie an ganz reale historische Menschen.

Die lyrische Arbeit der Künstlerin, die am Ende dieses Katalogs erst einen ganz eigenen Raum erhält, erstreckt sich dennoch auf den ganzen Katalog, weil die jeweiligen Bildtitel Auszüge aus den lyrischen Texten sind. So gewinnen die Bilder eine additive, zweite Bedeutungsebene:

Johanna Locher: Randgebiete eines Ozeans – Ansicht 3
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Lyrische Bildtitel erlebe ich als sehr positiv; sie schreiben dem Betrachter nichts vor, sondern, ganz im Gegenteil: sie eröffnen neue Horizonte; Assoziationsmöglichkeiten, die, bewusst oder unbewusst, mit dem visuellen Erlebnis verbunden sind oder eben ganz unabhängig vom konkreten Bild ihren ganz eigenen Weg durch meinen Kopf suchen.
Auf der vorletzten Katalogseite nun finden wir einen Gedicht-Text, der von oben in das Bild „hineinläuft“ und unten auch weiterzugehen scheint…Anfang und Ende, wenn es sie gibt, bleiben unsichtbar

Vielleicht könnten wir diese besondere Form als eine Metapher auf das Leben als solches (formal gesprochen: das Leben als Substantiv) sehen, welches wir ja sonst durch Anfang und Ende, Geburt und Tod, definieren; eine Sichtweise, die die Künstlerin dann aus ihrer existenzialistischen Sicht negiert. Diese Textkunst ist in diesem Paradigma ein Synonym für leben (leben als Verb).

Johanna Locher: Randgebiete eines Ozeans – Ansicht 4
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Wir leben, wissen nicht allzu viel über den Anfang und fast nichts vom Ende – und hier beschreibt Johanna Locher in ihrem wirklich sehr eigenwilligen und einzigartigen Stil den Prozess unseres Lebens als Teil der Welt. Wenn wir, soviel Interpretation wage ich, wenn wir Teil dieser Welt sind, sollten wir uns möglicherweise nicht trauen, Außen- und Innenwelt als zwei ganz verschiedene zu unterscheiden. Das bedeutet aber sicher nicht, dass es eine Einheit – etwa im Sinne einer harmonischen Welt – gibt.

Es ist immer schwierig und natürlich auch heikel, die Arbeit bildender Künstler in Bezug zu setzen zu anderen (möglicherweise Vorbildern etc.) – die Fettnapfgefahr ist groß. Und tatsächlich fällt mir niemand ein, der so schreibt, dass ich dies mit den Texten von Johanna Locher vergleichen könnte oder wollte:
Eine Analogie aber will ich doch nennen: nicht direkt im Schreibstil, aber in der Radikalität, in der Klarheit und vielleicht auch in der Sicht auf unsere Welt erinnert mich Johanna Locher an den großen Texter Cormac McCarthy.

Johanna Locher: Randgebiete eines Ozeans – Ansicht 5
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2019

Dem ausgewiesenen Kulturpessimisten McCarthy gelingt es mit seiner reduzierten Sicht und glasklaren Sprache, einen ganzheitlichen und existenzialistisch gekonnten Blick auf unsere Welt zu richten. Wie bei McCarthy liegt auch bei Johanna Locher die Wahrheit im Blick selbst, (nicht in dessen Gegenstand).
Johanna Locher erscheint in ihrem lyrischen Text einerseits als Ich-Erzählerin, als Subjekt, doch die äußere Welt scheint gleichsam gleichberechtigt: Eine Welt, Innen und Außen, Materie und Geist, Gegensätze oder auch nicht?

Diese Kunst verspricht, uns neue Dimensionen zu öffnen. Johanna Locher ist auf dem Weg. In Anlehnung an Cormac McCarthys besten Roman nenne ich daher meinen Text über Johanna Locher:
„Die Straße“.

Jürgen Linde im November 2019