Der Schatten und sein Körper – über Susanne Zuehlke

“Ein gutes gegenständliches Bild hat alle Qualitäten des Abstrakten“
Emil Wachter, 2002.
Ich beginne mein Porträt über die Malerin Susanne Zuehlke mit einem Zitat von Emil Wachter, weil selbiger mich mit dieser Aussage an eine Thematik erinnert hat, an der ich ohnehin weiter suchen und nachdenken wollte: die (Un-)gegenständlichkeit.
Mit ihren “Gesichtern“ oder “Köpfen“ arbeitet Susanne Zuehlke genau in diesem Grenz- oder Übergangsbereich; ihre Bilder lassen mich daran zweifeln, ob die Unterscheidung gegenständlich/ungegenständlich überhaupt irgendeine Relevanz hat. Spontan würde ich “nein“ sagen – und mir dann sofort widersprechen.

Susanne Zuehlke, © Foto: Künstlerin

Während auch ein absoluter Laie in Sachen Bildender Kunst sich leicht für die Landschaften eines Johann Wilhelm Schirmer oder eines Caspar David Friedrich zu begeistern vermag, beginnen sich die (selbsternannten und anderen) Experten eher vor den (dem Laien einfarbig erscheinenden) monochromen Bildern eines Lothar Quinte zu streiten – kaum weniger begeistert. Ich möchte beides keinesfalls missen und will darüberhinaus – sogar gerne noch wissen, warum.

Schauen wir, ob Susanne Zuehlkes Arbeiten uns helfen, der Faszination des Ungegenständlichen auf die Schliche zu kommen. Während sie früher Porträts (im Sinne “wiedererkennbarer“ Gesichter) gemalt hat, genügt ihr heute, einen Kopf nurmehr gestisch anzudeuten. Ob damit eine konkret existierende Person in Verbindung gebracht werden kann oder nicht, bleibt unerahnbar.

Susanne Zuehlke im Kunstportal Baden-Württemberg
„Rave I“, 1998 | 120 x 90 cm, Eitempera auf Nessel
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Meine eigene Formulierung (“genügt ihr heute“) verrät (m)ein Vorurteil: daß nämlich die Idee des Kopfes, des Gesichts weniger sei als die individuelle Ausarbeitung des Bildes vom konkreten Beispielfall.

Der Begriff “Idee“ wiederum suggeriert dem Philosophen fast unmittelbar das Gegenteil: die Idee des Gesichts ist (repräsentiert) das wahre Gesicht, während jede Abbildung eines real-konkreten Gesichts nur ein notwendig unvollkommener Versuch ist zur Annährung an die Idee, zur “Darstellung“ eines Gesichts.

Der Mensch hat, als selbst unvollkommenes Wesen, die Idee von Gott (welcher den Menschen nach seinem Bilde schuf) als einem vollkommenen Wesen. So wäre dann die perfekt anmutende Abbildung eines realen Gesichts oder Kopfes bestenfalls die Reproduktion einer unvollkommenen Nachahmung der Idee.

Der Verzicht auf detaillierte Ausarbeitung von Gesichtszügen, das Abwenden vom Konkreten ist Reduktion im besten Sinne: Weglassen von allem Unwesentlichen, um dem Wesentlichen näher zu kommen.

Und dann ist ja auch die hochabstrakte Darstellung eines Kopfes, der – ohne “vordergründig“ – sichtbar zu werden – uns doch die Idee des Kopfes gibt, mitnichten einfacher als gutes, gegenständliches Porträt einer Person, die uns dann auch als Bild vertraut erscheint.

Denn wie entsteht ein Kopf auf/aus der Leinwand, welche Linien, welche Elemente (Hals, Schultern, Haare….?) braucht er, um Kopf zu sein? Wo ist sein Platz auf dem Bild, welchen Raum nimmt er ein, welche Farben?

Susanne Zuehlke im Kunstportal Baden-Württemberg
„Rote Serie 3“, 1999 | 75 x 85 cm, Eitempera auf Nessel
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Wir sehen dank der Bilder von Susanne:
Anders als etwa in der konkreten Kunst, die der Mathematik näher steht als der Natur, sind Susanne Zuehlkes Bilder nicht “Abstraktionen als solche“, sondern “Abstraktionen von Etwas“.
Der gestische Rückzug aus der konkreten Ausformulierung eines Gesichtes in Richtung der wesentlichen Elemente, die das Gesicht – dieses eine Gesicht und dann das Gesicht als solches – ausmachen, kommt der Idee “Gesicht“ potentiell näher als das reale Gesicht, das den Ausgangspunkt bildete.

Überhaupt ist die Natur, sind Landschaften immer wieder Orientierungspunkte für Susanne Zuehlke, die hier ihre Formen und ihre Farben findet.

Susanne Zuehlke im Kunstportal Baden-Württemberg
„Landschaftliches Gedankengut“, 2000 | 105 x 90cm, Eitempera auf Nessel
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

In der Natur entdeckt sie sinnliche Antworten; aus denen (was wären wir ohne Dialektik) natürlich Fragen folgen. Diese Fragen wären dann zum Teil an die Naturwissenschaft zu richten, mit der sich Susanne Zuehlke ebenfalls beschäftigt.
Viel stärker aber drückt sich diese Thematik in ihrer Kunst aus: die Farbräume, die sie auf der Leinwand entwickelt – oft aus Komplementärfarben, deren Kombination anderen MalerInnen zu gefährlich ist – enthalten gleichzeitig hohe Spannung und gelassenste Ruhe. Tatsächlich entsteht im fertigen Bild aus der Spannung der Räume eine Harmonie, die wir – nun im Sehen geübter – (nur) in der Natur wiederzuentdecken vermögen.

“Die Bewegung ist der Kopf“ sagt Susanne und beschreibt damit den aktuellen Stand der Dinge ihrer Kopfstudien:

Eine einzige kraftvoll geschwungene Linie, ihr ganz bestimmter Duktus, beschreibt als Bewegung im Farbraum das Wesen des Gegenstandes.
Je weiter Susanne Zuehlkes Bilder sich vom Gegenständlichen entfernen, desto klarer wird uns, was wir eigentlich sehen: wir selbst sind beteiligt an der Rekonstruktion des Ganzen aus Andeutungen, aus Wesenselementen.

Susanne Zuehlke im Kunstportal Baden-Württemberg
ohne Titel, 2002 | 18 x 15 cm, Eitempera auf Nessel
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Mit Hilfe der Bildenden Kunst erschaffen wir die Begriffe (Hier: Kopf, Gesicht), die wir verwenden; wir rekonstruieren sie, indem wir sie zersetzen, und sehen/wissen plötzlich mehr als vorher.

Zuehlkes Gesichter widerspiegeln nicht ein bestimmtes Gesicht, sondern die Idee des Gesichts. Wir lernen sehen, indem wir Kunst aktiv betrachten.

Und wenn die Gegenständlichkeit ganz verschwunden ist oder scheint (ob/wann dies der Fall ist, erscheint mir eine individuelle wie auch dynamische Frage zu sein), so können wir noch immer Schönheit erkennen: die Schönheit der Idee, an die das Reale zu erinnern vermag. Für das, was wir jetzt sehen oder erfahren, gibt es keine Begriffe, die wir rekonstruieren könnten. Die Sprache reicht nicht bis hierher; aber: Kunst macht sichtbar, wie Paul Klee ja einmal gesagt hat.

Susanne Zuehlke im Kunstportal Baden-Württemberg
„Rote Serie 1“, 1999 | 75 x 85 cm, Eitempera auf Nessel

Die Sprache, immerhin, versucht dies auch aus eigenem Streben: doch es gelingt ihr nicht in der Wissenschaft, wo die Menschen glauben, alles, was sie zu benennen/erkennen vermögen, auch kontrollieren zu können. Es gelingt ihr bestenfalls dort, wo sie ebenfalls Bilder zu schaffen sucht – in der Lyrik:

Als ich Susanne Zuehlke einmal in ihrem Atelier besuchte, arbeitete sie gerade an einem Transparent für den Geburtstag des Lyrikers Werner Dürrson mit folgendem Text:
„Die unbeleuchtete Seite des Worts.
Im Gedicht lebt der Schatten ein wenig länger
Als sein Körper“
Werner Dürrson

Vielleicht ist genau dies das Thema von Susanne Zuehlke:

Der Schatten und sein Körper

Jürgen Linde, 2002