Kontingenz der Wirklichkeit – zur Kunst von Maria Grazia Sacchitelli

Aktuelle Ausstellungen und Projekte von Maria Grazia Sacchitelli:

Porträt von Vivien Sigmund über Maria Grazia Sacchitelli

mit einer Einleitung von Jürgen Linde

Um einen Überblick zu erhalten über das vielfältige Werk von Maria Grazia Sacchitlli empfehlen wir die sehr gut strukturierte Website der Künstlerin, wo Sie auch erhellende Texte zu ihrerArbeit von Kunsthistorikern finden: https://maria-grazia-sacchitelli.de

Maria Grazia Sacchitelli im Internet: Website: | https://maria-grazia-sacchitelli.de
E-Mail: | mg.sacchitelli@t-online.de

Kontingenz der Wirklichkeit

Herzlich danken wir der Stuttgarter Kunsthistorikerin Vivien Sigmund, dass wir ihren Text zum Gesamtwerk von Maria Grazia Sacchitelli hier (weiter unten) verwenden dürfen.

Vivien Sigmund fasst ihre erhellenden Gedanken so zusammen: „Die mal subtilen, mal fröhlich unverfrorenen Verschiebungen der Wirklichkeit kratzen an den Grundfesten einer durchdeklinierten Welt, sie irritieren und befreien erfreulich leichtfüßig das „So-ist-es“ aus seinem indikativen Rahmen und transformieren es in ein „Das-wäre-möglich“. Die Welt wird so in den Arbeiten von Maria Grazia Sacchitelli zum Konjunktiv, zur fluktuierenden Möglichkeitenform.

Die Welt ls Konjunktiv? Was eigentlich ist Kunst? Wie ist das Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit? Mit eben solchen Fragen befassen wir hier, in unserer Serie von Künstlerporträts im kunstportal-bw, seit 26 Jahren – in inzwischen über 260 Künsterporträts. Texte, die viele von Ihnen regelmäßig lesen, mancher schon seit dem Serienstart im Jahr 1996. Immer wieder haben wir gesehen, dass offenbar die Kontingenz der Wirklichkeit wichtig ist. Oft, nicht immer, zeigt die Kunst uns die Welt, wie sie ist. Doch immer verweist uns die Kunst darauf, dass es auch anders sein könnte. Hier ist Kunst kritisch, unbequem, politisch: sie stellt in Frage, was ist – ist es wirklich so, wie es scheint, könnte es auch anders sein und wie anders? Kunst weckt Assoziationen und motiviert unsere Fantasie.

Fantasie-Welten, eigene Welten? Heute ist ja oft die Rede von immersiver Kunst. Dabei sei der Hinweis erlaubt: was heute gerne – nicht ohne avantgardistischen Anspruch – modisch als immersive Kunst beschrieben wird, kennen wir lesenden Menschen schon immer: viele lasen als Kinder vielleicht (oder bekamen – als wohlbehütete Kinder – sogar vorgelesen aus) „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“. Michael Ende – und andere Märchenerzähler und Autoren – schufen immersive Welten, lange bevor es diesen Begriff gab. Wir tauchten ein und ließen uns – lustvoll und fasziniert – entführen.
Auch die Kunst von Maria Grazia Sacchitelli entführt uns, wenn wir es zulassen. Vivien Sigmund erklärt uns, wie dies der Künstlerin gelingt. (Jürgen Linde, 2023)

Vivien Sigmund, Kunsthistorikerin M.A. über Maria Grazia Sacchitelli: Gesamtwerk

Die künstlerische Arbeitsweise von Maria Grazia Sacchitelli ist an eine wissenschaftlich experimentelle Vorgehensweise angelehnt.
Inhaltliche Themen und Fragestellungen umkreist die Künstlerin mit unterschiedlichen Mitteln und Methoden, zerlegt sie, stellt sie in Frage, konfrontiert sie mit ihrem Gegenteil, löst sie aus vorgegeben Strukturen und Sinnzusammenhängen. Die endgültige Form ist im Werk nicht von vorneherein festgelegt, sondern entsteht erst innerhalb eines künstlerischen Prozesses.

Viele der Fragestellungen Sacchitellis ergeben sich aus Ambivalenzen. Dabei gibt es ein paar Themenstellungen, die in ihren Werken immer wiederkehren. So lotet die Künstlerin das Verhältnis von Kunst und Nichtkunst, Privatheit und Öffentlichkeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Erscheinung und Sein, Anwesenheit und Abwesenheit und dergestalt auch die Frage nach einer, wie auch immer gearteten, Präsenz oder Aura des Kunstwerks aus.

Oftmals ist der Ausgangspunkt für eine künstlerische Arbeit ein Objet trouvé, ein gefundenes Objekt, das den Prozess hin zur Formfindung und Kunstwerdung in Gang setzt. Das Material als solches, sein Kontext, seine Verfasstheit und das ihm innewohnende Potential zur Konstruktion oder Metamorphose, nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein.

Die Künstlerin findet ihre Rohstoffe mal im übertragenen, mal im wörtlichen Sinn am Wegesrand. Das können Verpackungsmaterialien sein, ausrangierte Komponenten technischer Geräte, also Zivilisationshinterlassenschaften aller Art bis hin zu aussortierten Textilien, aber auch Elemente aus der Flora und Fauna, namentlich Insekten und Pflanzen. Und immer wieder spielt auch die Farbe und ihre organischen Fließeigenschaften eine Rolle in ihrem Werk.

Diese Fundstücke werden, teils künstlerisch verfremdet, teils als Ready-made, teils als reine Idee, immer aber in dualistischen Arrangements in Installationen, Aktionen, Zeichnungen, Foto- und Videoarbeiten verarbeitet und dadurch mit sich selbst, dem System Kunst und der Außenwelt in Beziehung gesetzt. Wobei die Zeichnung als eine Art Mediatorin zwischen Welt und Kunst eine bedeutende Rolle im Werk einnimmt. Die Werke sind dabei von einer feinsinnigen, Assoziationsräume eröffnenden Komposition bestimmt, die im Falle der Farbarbeiten auch das Resultat eines gelenkten Zufalls sein kann.

Das Bekannte, mithin Gewöhnliche, auf jeden Fall aber Gewohnte, beginnt in diesen, von der Künstlerin neu geordneten Zusammenhängen zu schillern, es entfaltet in einer ganz und gar ungewöhnlichen Uneindeutigkeit ein erstaunlich poetisches Potential. Die mal subtilen, mal fröhlich unverfrorenen Verschiebungen der Wirklichkeit kratzen an den Grundfesten einer durchdeklinierten Welt, sie irritieren und befreien erfreulich leichtfüßig das „So-ist-es“ aus seinem indikativen Rahmen und transformieren es in ein „Das-wäre-möglich“. Die Welt wird so in den Arbeiten von Maria Grazia Sacchitelli zum Konjunktiv, zur fluktuierenden Möglichkeitenform.

Vivien Sigmund, Kunsthistorikerin M.A.

Mit dem Versuch, die abschließenden Worte des erhellenden Textes von Vivien Sigmund und meine vorangestellten Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit zusammen zu fassen, nenne ich dieses Porträt „Kontingenz der Wirklichkeit – zur Kunst von Maria Grazia Sacchitelli“.

Jürgen Linde im August 2023