Hinkelstein – eine Art Tagebuch vielleicht – über alles und das Nichts.
Hinkelstein II – Gedanken zur Digitalisierung von Kunst und Kultur
Anders als viele hofften, wird die Pandemie leider nicht am 30. November beendet, sondern es geht weiter – natürlich auch mit den “Hygiene-Maßnahmen“. Die nun bald verfügbaren Impfstoffe werden das Virus ja bestenfalls auf lange Sicht stoppen können. Und schon scheint das nächste (“Korea-“) Virus im Anflug.
Was bedeutet dies für Kunst und Kultur?
Wie Peter Weibel schon vor Monaten geschrieben hat, wird das Virus unsere Welt nachhaltig verändern; er spricht ja von einem Übergang der alten Nah-Gesellschaft in eine neue Ferngesellschaft (siehe hier: Virus, Viralität, Virtualität ), die er in erster Linie als großen Fortschritt sieht und, profan gesagt, ziemlich gut findet.
Auch wenn ich selbst diese Entwicklung wesentlich kritischer sehe als der ZKM-Chef, so ist dennoch unstrittig, dass die digital vermittelten Kulturangebote absolut und anteilig mehr werden.
Veranstaltungen mit größeren Besucherzahlen werden genauso wie im Sport auch in der Kultur vorläufig kaum möglich sein – auf Konzerte von Pop bis Klassik, Theater, Oper live werden wir bis auf weiteres verzichten müssen. Vielleicht wird es ja bald kammermusikalische Konzerte geben – in großen Konzertsälen, so dass die meist überschaubare Zahl an Besuchern die Abstandsregeln einhalten kann – ich meine dies nicht ironisch: natürlich wird sich auch das Kulturangebot inhaltlich und strukturell verändern.
Die Digitalisierung wird einer der Schwerpunkte dieser Entwicklung bleiben. Wir sollten versuchen, diese Entwicklung nicht unkritisch zu bejubeln, sondern sollten sie so gestalten, dass die Stärken und Vorteile der Digitalisierung bestmöglich genutzt werden und dadurch möglichst vielen Menschen zugutekommen.
In Baden Württemberg ist, natürlich, das ZKM – immer schon zuhause auch in der digitalen Welt – der Vorreiter. Längst gibt es eine ZKM_Seite mit “digitalen Vermittlungsangeboten“. Daneben ist das Ministerium für Wissenschaft und Kunst (MWK) sehr fleißig dabei, mit dem Programm “Digitale Wege zur Kunst“ die Kunstinstitutionen des Landes eben auf die digitale Schiene zu setzen.
Hier wurde, wie man so schön sagt, richtig “Geld in die Hand genommen“, und es wurden und werden von vielen verschiedenen Akteuren viele kreative Ideen und Projekte entwickelt.
Viele empfinden diese Vielfalt schon jetzt als den Anfang eines Durcheinanders. In den unendlichen Weiten des Internets könnte zuviel der kreativen Energie im Netz verpuffen.
Unüberschaubar geworden ist die Vielfalt an Ideen und Projekten, die von der (ohnehin notwendigen) Digitalisierung von Museumsbeständen über Videoführungen durch (pandemiebedingt nicht zugängliche) Kunstausstellungen geht. Diese werden dann auf den jeweiligen Websites als Videostreams zur Verfügung gestellt. Mehrfach auch gab es schon digitale Vernissagen; teilweise mit interaktiver Beteiligung der Gäste und natürlich wächst auch der Bereich digitaler Gesprächsrunden, die dank bereits vorhandener Software für Videokonferenzen mit durchaus überschaubarem Aufwand realisiert werden können.
Grundsätzlich ist sehr erfreulich und positiv, dass die Kunst- und Kulturwelt die Herausforderung annimmt. Doch die neue Unübersichtlichkeit der Kultur im Netz birgt für die Kulturfreunde womöglich viele Sackgassen. Die Vielfalt all der Projekte und die enorme Energie, die hier freigesetzt wurde und wird, sollte stattdessen, so denke ich, in eine gemeinsame Struktur einfließen.
Kurz gesagt: die Bereitstellung digitaler Kulturangebote sollte (rein technisch betrachtet) standardisiert werden – nur so können wirklich viele Menschen erreicht werden.
Wir brauchen ein, ich benenne es gleich in neudeutsch: ein CI.
Nein: keine Corporate Identity, sondern ein Cultural Interface. Eine Standard-Software, mit der wir von jedem Browser aus auf die Streaming- und Videokonferenz-Angebote der Kultur zugreifen können.
Politische Aspekte: Dies könnte eine europäische Lösung sein. Oft hören wir aus der Politik, die nicht ohne Grund vor der Übermacht der amerikanischen Datenkraken warnt, den Ruf nach (mehr) digitaler Autonomie Europas. Es kann und wird weiterhin nur ein Internet geben.
Ein europäisches Kulturnetz aber könnte einen eigenen integralen Bereich bilden.
Man mag ja Europa als das Museum der Welt sehen, aber als Museum sollte es auch Avantgarde verkörpern.
Jürgen Linde