Kunstausflüge mit Sigrid Balke | 20.04. – 20.10.2024 | Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau
© Foto: Harald Lambacher
Bei diesem Kunstausflug wird der Begriff Kunst auf Bereiche erweitert, die nicht primär im Fokus von Kunstliebhabern sind. Von Kunstsammlern ganz zu schweigen, denn diese Exponate erscheinen bei keiner Auktion, und können nicht erworben werden. Die absolut einmaligen Kunstwerke werden in der Großen Landesausstellung Baden-Württemberg erstmals in dieser Zusammenstellung präsentiert. Prädikat: Sehenswert!
Bild links: Wetterhahn aus Brescia, 820. © Museo di Santa Giulia, Brescia /
© Archivio Fotografico Musei Civici di Brescia / Fotostudio Rapuzzi
Die Rede ist von bedeutender Klosterkunst des Mittelalters. Erlebbar wird die karolingische und ottonische Zeit zwischen dem 8. Und 11 Jahrhundert. Nicht mit dem Akzent auf Kaiser und Könige, sondern aus der Sicht einfacher Mönche und Äbte. Wobei einfach den Lebensstil der Mönche im Kloster, nicht aber ihren Wissensschatz meint. Sie waren die wahren Machthaber, denn in ihren „monastischen Waffenschränken“, den Klosterbibliotheken, verwahrten sie das Wissen der damaligen Welt. Wissen ist Macht, und das ging weit über den alemannischen Raum und die Klosterinsel Reichenau hinaus. Es bestanden enge Verbindungen zu Italien, Skandinavien, Nordafrika und bis in den Orient. Die Leihgaben die im Badischen Landesmuseum Konstanz zu sehen sind, kommen aus gesamt Europa. Darunter Werke von internationalem Rang und bisher nie verliehene Exponate. Was ist in der Ausstellung zu sehen? Faszinierend schöne Meisterwerke aus dem Skriptorium des Klosters Reichenau, des Klosters St.Gallen und weiterem Kloster- und Kirchenbesitz, Reliquien von unschätzbarem Wert, außergewöhnliche Goldschmiedearbeiten, Glasmalereien, Skulpturen, Gemälde, eine Replik des St. Galler Klosterplans als Dokumentation der hoch entwickelten Klosterkultur, und das Who’s who des Mittelalters, das Reichenauer Verbrüderungsbuch. Es enthält die Namen derer für die man in Klöstern europaweit gebetet hatte. Es umfasst 38.000 Namen und 100 klösterlichen Gemeinschaften und ist eines der umfangreichsten Glaubens- und Wissensnetzwerke des Mittelalters. Die ausgesprochen gute Szenografie der Ausstellung verknüpft Kunst, Kultur, Wissen und Politik, gibt Einblicke in den Alltag der Mönche und schafft einen stimmigen Gesamtkontext. Mit unterschiedlichen medialen Zugängen, den analogen und digitalen Tools einer erklärenden App mit Audiospuren, Expertenvideos, Geschichte und Geschichten, ist die Ausstellung nicht nur für ohnehin kunstaffine Besucher attraktiv, sondern auch für ein jüngeres Publikum. Die App begleitet durch alle Bereiche der Ausstellung und durch alle Standorte. Neben dem Badischen Landesmuseum Konstanz sind das die drei Klosterkirchen der Reichenau, das anlässlich des Jubiläums neu gestaltete Museum auf der Reichenau mit seinen Dependancen an jeder der drei sehenswerten Kirchen und die St. Galler Stiftsbibliothek.
Bild rechts: ein Büsten-Reliquiar des heiligen Bischofs Zeno von Verona, um 1480, Badisches Landesmuseum Karlsruhe; © Foto ARTIS Uli Deck
Die Klosterinsel Reichenau als Wissenszentrum und als Drehkreuz für Kulturtransfer mit europaweiter Bedeutung und UNESCO Weltkulturerbe wird in diesem Jahr mit dem 1300 jährigen Bestehen gefeiert. Das Jahr 724 gilt als das Jahr in dem Wandermönch Pirmin die verkehrsgünstig gelegene Insel betrat und die Abtei gründete. Die Stunde Null der Insel war es vermutlich nicht, aber der Zeitraum gilt als durchaus plausibel. In seiner Nachfolge befinden sich namhafte Äbte die zu jener Zeit auch Regierungsgeschäfte übernahmen, da sie lesen und schreiben konnten und über gute Kontakte verfügten. In der Schreibwerkstatt des Klosters Reichenau fertigten die Mönche, meist in gemeinschaftlicher Arbeit, Auftragsarbeiten bedeutender Herrscher an. Prachthandschriften, von denen 16 während der gesamten Laufzeit der Ausstellung zu sehen sind. Darunter fünf aus dem UNESCO Weltdokumentenerbe wie der Codex Egberti, ein Hauptwerk der ottonischen Buchmalerei oder das Evangeliar von Poussay mit seinem prachtvollen Goldeinband aus dem Pariser Nationalmuseum. Ehrfurchtsvolles Staunen beim Anblick von mehr als 1000 Jahre alten Handschriften. Die Klosterkirche St. Maria und Markus bekam eine neu eingerichtete Schatzkammer und der Klostergarten zu dem Abt Walahfrid Strahbo um 830 seine 444 Verse des „Hortulus“ verfasste, wurde nach seinem Ordnungsprinzip neu angelegt: Kreuzgang, die 24 Heilkräuter, Küchenkräuter und Nutzpflanzen und Friedhof. Der „Hortulus“ ist die erste Anleitung zum Gartenbau in Deutschland und ein Meisterwerk mittelalterlicher Dichtkunst. Kunst von Malerei über Skulptur, Buchkunst, Freskenmalerei bis Poesie – die Große Landesausstellung ist unter diesem Aspekt ein Gesamtkunstwerk.
Sigrid Balke
Ausstellungsdauer: bis 20.Oktober
www.ausstellung-reichenau.de