Hirschbiels Malerei begleitet mich und meine Arbeit mit dem kunstportal-bw seit vielen Jahren, da ich immer wieder Werken dieses regional verwurzelten und lange schon weit über das Land hinaus präsenten Künstlers begegnete. Im weiten – und spannungsreichen Feld zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion hat Wolf Rüdiger Hirschbiel (s)eine ganz eigene Position erarbeitet.
Um den Künstler persönlich besser kennen zu lernen, nutze ich einen Besuch im (Atelier-) Haus des Künstlers, der nicht weit entfernt von Heilbronn lebt und – abgesehen von zahlreichen Fernreisen nach Südeuropa oder oft auch nach Skandinavien – bislang immer seiner Heimatregion treu geblieben ist.
Das Grundthema Quadrat – fast immer in rechteckigen Formaten präsentiert, ist eine Art Markenzeichen Hirschbiels; seine Werke erkennt man daher schnell und wir wissen: über das Quadrat in der Kunst im allgemeinen und auch über das Thema Quadrat bei Wolf-Rüdiger Hirschbiel im Besonderen ist schon viel – man könnte glauben: eigentlich schon alles – gesagt und geschrieben worden.
Vielleicht haben Sie als Leser und Wegbegleiter unserer Forschungsreise zur Kunst, ähnlich wie ich, schon mehrfach gedacht, dass wir eines unserer wiederkehrenden Themen – den spannungsreichen Gegensatz zwischen gegenständlicher und abstrakter Malerei – endlich mal grundsätzlicher angehen sollten.
Wie ist es möglich, dass dieses Thema und die ja auch weiterhin ständig neu entstehenden Arbeiten Hirschbiels immer wieder frische Anziehungskraft auf uns ausüben und Spannung erzeugen?
Den Versuch, bei einem alten Thema neue Aspekte zu entdecken, begann ich mit dem Besuch der aktuellen Ausstellung des Künstlers in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen; der schöne Titel der Ausstellung „»Im engsten Raum Unendlichkeit gezeitigt« | Wolf-Rüdiger Hirschbiel“ (noch bis 21. April 2024) ist einem Gedicht entnommen, das der Lyriker und Kunsthistoriker Kurt Leonhard für Wolf-Rüdiger Hirschbiel geschrieben hatte und das ein Buch über die Malerei (2017) von Wolf-Rüdiger Hirschbild einleitet.
Angeregt durch das oben erwähnte Gedicht von Kurt Leonhard, versuche ich einmal mehr, durch Assoziationen zu anderen Genres – hier also zur Literatur – die nächsten Schritte zu finden.
Den großen Schwerpunkt der durchaus auch retrospektiv angelegten Schau bilden zahlreiche Arbeiten, die sich der Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Quadrat widmen. Seit Kasimir Malewitsch das Quadrat 1915 “erfunden“ hat, befassen sich Künstler und v.a. Kunstwissenschaftler mit diesem Paradigma der abstrakten Kunst . Ähnlich vielleicht wie wir als Kunstbetrachter eine einfache waagrechte Linie gerne sofort mit dem Thema Landschaft assoziieren – evoziert das Quadrat meist Vorstellungen von Fenstern, Durchbrüchen, Himmel, Licht, Unendlichkeit, Transzendenz und Erkenntnis.
Unvermeidlich, und wohl auch nicht vom Künstler unbeabsichtigt, erleben wir Hirschbiels Studien zum Quadrat oft als Fenster, durch die wir hinausblicken, manchmal den Himmel sehen, manchmal auch geheimnisvoll-Anderes in einer neuen Farbfläche, die unserer Fantasie Raum bietet. Routiniert und klar formuliert dies der Kunstexperte Günter Baumann in seinem Katalogbeitrag 2017:
„Das Viereck, das wir wahrnehmen, erweist sich so als ein phantastisches Trugbild, denn in der Tat glauben wir, im Zentrum ein Quadrat zu sehen, das zuweilen von einem kräftigen, himmelblauen Viereck ausgefüllt wird, oder unser Blick endet auf Binnenflecken gewischter Malspuren, sogenannten Vorhangbildern, welche sich in anderen Arbeiten auch einmal nahezu der ganzen Bildfläche bemächtigen“
(Katalog: Wolf-Rüdiger Hirschbiel – Malerei, 2017; Seite 9).
Die Vorhangbilder erinnern uns daran, dass wir Fenster nicht immer nur positiv erleben. Sie können, etwa nachts in der Dunkelheit, auch als bedrohlich empfunden werden. Die Unendlichkeit des Himmels kann auch beängstigend – als Verlorensein, als Einsamkeit wahrgenommen werden.
Mit dieser Ambivalenz von Fenstern oder auch Toren, die in Beiträgen über Hirschbiels Arbeit auch ständig Thema sind und die ja die geöffnet oder eben verschlossen sein können, gelangen wir fast automatisch zu Franz Kafkas berühmter Parabel “Vor dem Gesetz“: Tore können eine Grenze sein, vor der wir ängstlich zurückschrecken. Wir wollen das Tor durchschreiten und glauben, dies nicht zu können.
Das Tor zu durchschreiten bedarf unserer bewußten Entscheidung, unseres Mutes. Die Ängste, die wir haben, hindern uns möglicherweise daran, das Tor zu durchschreiten – vielleicht in etwas Unbekanntes?
Bild links: Wolf-Rüdiger Hirschbiel: 4/16, 2016, Acryl auf Leinwand, VG Bild-Kunst Bonn 2024
Kurt Leonhards Gedicht endet mit den nachdenklichen Versen:
„Aus nächster Sorgen Haft
Aufbruch zur Freiheit„
Das Licht zieht uns an, motiviert dazu, die uns bekannte Welt – die Ordnung, das Quadrat – zu überschreiten. Doch ebendiese Freiheit erfordert unseren Mut zum Risiko; entscheiden müssen wir uns selbst.
Die Kunst von Wolf-Rüdiger Hirschbiel jedoch zeigt uns die Möglichkeit der
Freiheit im Quadrat.
Jürgen Linde im April 2024