ONLINE LOGBUCH – “Elan Vital – Poesie der Bewegung” – Entry #11

Städtische Galerie Böblingen | 07. 11.2021 bis 20.03.2022 | “Elan Vital – Poesie der Bewegung”
11.02.2022 Entry # 11 – Selçuk Dizlek und die Sprache der Substanz

Anlässlich der aktuellen Gruppenausstellung “Élan Vital-Poesie der Bewegung” stellt der Schweinfurter seine subtil die Gattungsgrenzen zwischen Malerei, Objekt, Relief, Bildhauerei, Interaktions- und Lichtkunst auslotenden Werkgruppen mit Zeichnungen und Skulpturen der Klassischen Moderne und des Informel in eindrücklichen Bezug.
 
Glas, Glanz und Gewebtes
 
Neben der Verwendung von Metall und dem eher partiell zum Einsatz kommenden Beton oder glasiertem Ton, bzw. Keramik, sind hauptsächlich Leuchtkästen oder -skulpturen, Lichtstelen oder -plastiken sowie Farbraumobjekte oder -reliefs aus reflektierenden, fluoreszierenden und transluziden Materialien wie Spiegel- oder Plexiglas nicht aus seinem Repertoire wegzudenken. Vor allem der letztgenannte, vollsynthetisch hergestellte Glasersatzstoff wird im Vergleich zu den übrigen im Werk des Künstlers zum Zuge kommenden Arbeitsmaterialien seit geraumer Zeit verstärkt aufgegriffen. 
 
Bereits im Jahr 2011 befand sich Selçuk Dizleks unter den 23 Künstlerpositionen, die vom Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe im Rahmen des Wettbewerbs “Gewebtes Licht” von einer internationalen Jury ausgewählt worden waren. Sein Beitrag stand in dieser Themenausstellung symptomatisch für ein Werk, bei dem das Licht selbst zu einem Kunstwerk erklärt werden kann.
 
Seine aus durchscheinend bunten wie farbneutralen Acrylglasteilen bestehenden Formationen, die im Sinne einer geometrisch-abstrakt-konkreten Grundform zu “Leucht- und Lichtstücken” gefasst werden, können sowohl aus sich selbst heraus, gesteigert durch natürlich einfallende Lichtquellen, als auch im abgedunkelten Raum unter Ultraviolett- oder Schwarzlicht-Beleuchtung farbenprächtigst erstrahlen. Im Wechsel der eingenommenen Standpunkte und abhängig von sich verändernden Lichtquellen, die sich über die Tages- wie Jahresverläufe ergeben, sind die Werke der steten Verwandlung unterworfen und lassen sich immer wieder anders erfahren und erkunden.

Ausstellungsansicht. Selcuk Dizlek im Dialog mit Gerlinde Beck und Peter Brüning

Kunststoff im Kunstkontext
 
Die “Gebrauchsgeschichte” dieses im doppelten Wortsinn bedeutsamen “Kunststoffs” innerhalb der Zeit- und Kunsthistorie weist eine spannende Entfaltung auf, die sich – ursprünglich von einer Geschichtslosigkeit ausgehend – im Spiegel der wandelnden Zeiten vom Aufbruch der Moderne über die Zwischenkriegsjahre bis in die Nachkriegszeit vollzogen hat, um im zeitgenössischen Kunstkontext in seiner Präsenz ungebrochener denn je angetroffen zu werden. 
 
Zunächst fand das in den ausgehenden 1910er- Jahren technisch entwickelte Plastik, in Form von Bakelit oder Ebonit, Anwendung im profanen Bereich, um dann nahezu ohne Umwege von der Anhängerschaft progressiver Kunstrichtungen adaptiert zu werden. Als sichtbares Element ist es erstmals bei den Konstruktivisten nachzuweisen.
 
Ab Ende der 1920er- Jahre wurde zeitgleich in mehreren europäischen Ländern der transparente und thermoplastischen Werkstoff mit der fachlichen Bezeichnung “Polymethylmethacrylat”, in Deutschland unter Beteiligung des Chemikers Walter Bauer (1893–1968), hergestellt, um als bei Hitze leicht biegsames und anpassungsfähiges gläsernes Ersatzprodukt bereits ab Mitte der 1930er-Jahre auf den Markt zu gelangen. Seine Materialeigenschaften waren aufgrund seiner Flexibilität und Formbarkeit für die Kunstschaffenden aufregend. Die neuartigen Qualitäten wurden von den Avantgardisten für besondere plastische Formfindungen in neuen Raumkonzepten zur Gestaltung transparenter skulpturaler Bildwerke genutzt, also für andersartige Anwendungsgebiete, die mit traditionellem Glas nicht erschließbar oder möglich gewesen wären.
 
Eines der ersten „Alltagsprodukte“, bei dem Acrylglas angewandt wurde, war beispielsweise die Abdeckhaube für das von Hans Gugelot und Dieter Rams aus Metall und Holz entworfene Gehäuse der RadioPlattenspieler– Kombination BRAUN SK 4 aus dem Jahr 1956 – einer heutigen Design-Ikone.
 
Über den Einsatz des geschichtsträchtigen Plexiglases in Verbindung mit den Phänomenen Licht und Farbe hinaus, reizt Selçuk Dizlek automatisch die Verschiebung seines ohnehin zwischen Malerei, Objektkunst- und Bildhauerei changierenden, interdisziplinären Werks bis an die Genregrenzen zum Design aus. Dies scheint auf dem Parkett der Kunst noch immer ein gewagter Schritt zu sein, der vor nicht allzu langer Zeit aufgrund der noch strenger und klarer verlaufenden Abgrenzungen zwischen den einzelnen künstlerischen Sparten eine Anmaßung, um nicht zu sagen, ein regelrechter Affront, gewesen wäre. 
 
Mit der Verwendung des Plexiglases stellt sich der junge Künstler in eine vor allem im Südwesten Deutschlands beständige künstlerische Tradition: Stellvertretend für die progressive Künstlerschaft im südwestdeutschen Raum waren etwa Paul Reich oder die in der aktuellen Ausstellung mit einfühlsamen Werken vertretene Gerlinde Beck seit Ende der 1950er-Jahre unter den ersten, die das neuartige, “unbelastete” Material in ihre Bildhauerei als ausdruckssteigernde Gestaltungselemente, in sogenannten “Lichtplastiken”, “Lichtketten”, Lichtschachs” oder “Lichtsäulen” und “Lichtstelen”, integrierten.
 
(Text: Corinna Steimel; Auszüge des Textes stammen aus dem Katalogbeitrag „Die Sprache der Substanz“ in der gerade erschienenen Publikation zur Einzelausstellung des Künstlers “in flux: LinieRaumLicht” in der Kunsthalle Schweinfurt)