uns | verloren? über Rolf Schindler

Rolf Schindler:
E-Mail info@rolf-schindler.de
Internet: www.rolf-schindler.de

Überwältigend.
So mein erster Eindruck, als ich gestern erstmals die Arbeitsräume des Zeichners und Malers Rolf Schindler betrat. Von den großformatigen, gleichzeitig filigranen und gewaltigen Zeichnungen, die die obere Wandhälfte der hohen Altbauräume dominieren, die ich aber teilweise bereits kannte.

Rolf Schindler in seinem Atelier
© Foto: Birgit Spahlinger

Überwältigt – im Sinne von völlig überrascht – war ich zunächst von der unglaublichen Menge an Musik-CDs, die, ordentlich in Regalen gelagert, etwa die untere Hälfte der Wände ausmachen.

Ich hätte es ahnen können, da ich ja weiß, daß Rolf Schindler auch Musiker ist; er spielt vor allem Schlagzeug und Saxophon und gehört, mit Helmut Wetter und Birgit Spahlinger, zur bekannten Formation „Raummusik für Saxophone“.

Hier aber geht es um den bildenden Künstler Rolf Schindler.
Beim gemeinsamen Betrachten seiner Zeichnungen, die mal farbgewaltig, mal farblich sehr reduziert sind, fällt mir das Thema “Überkomplexität“ ein.

Zeichnung; ca. 150 x 150 cm | © Rolf Schindler, VG Bildkunst Bonn 2020

Dies hatte zwei Gründe:
1. Schindler lässt bei seinen Zeichnungen fast nie eine Fläche frei, alles füllt er mit feinen Mustern und Strukturen und gerne auch mit durchaus gegenständlichen Elementen.
2. war ich Mittags bei der Vorbesichtigung einer Ausstellung im Karlsruher ZKM: Car Cultures – Medien der Mobilität. Auch hier geht es um die Komplexität unserer modernen Welt, in der, so ZKM Chef Peter Weibel, das Mobiltelefon (resp. das Smartphone) inzwischen das Auto als Medium der Mobilität ersetzt hat. Ein sehr komplexer Zusammenhang, bei dessen Diskussion mit Rolf Schindler die unterschiedlichsten Themen – von Literatur und Musik bis zu Politik und Gesellschaft – angeschnitten werden.

Auch Schindlers bildnerische Arbeit umfasst diese enorme Bandbreite. Nach meinem Empfinden geht es hier, ähnlich wie dem Mobilitätsthema des ZKM, immer wieder um die Rolle des Menschen, des Individuums, in einer von technischen Systemen zunehmend dominierten Umwelt.

Fotoübermalung aus der Serie „Yesterday’s Papers“
ca 30 x 40 cm | © Rolf Schindler, VG Bildkunst Bonn 2020

Ich möchte versuchen, Rolfs Zeichnungen in diesem Sinne anschaulich zu machen, indem ich die Reflektionen zu einigen unserer Gesprächsthemen erneut aufnehme.

Schindlers Bilder nun evozieren und provozieren für mich vielfältigste Assoziationen, die aber alle damit zu tun haben, dass wir, dass der einzelne Mensch, sich in einer ihn oft überfordernden, nicht mehr überschaubaren und in verschiedener Hinsicht überkomplexen Welt findet – oder eben nicht findet.

Diese radikale Fragestellung nach unserer Identität und Autonomie, ist zweifelsfrei heute ein zentrales Thema der (bildenden) Kunst – und doch keineswegs neu: es ist (wieder einmal) Franz Kafka, der an diesem Thema gearbeitet hat und vieles, was Rolf Schindler zeigt, mit den Mitteln seiner sprachlichen Kraft – als Dichter – bereits visualisiert hat – in “Der Prozeß“.

aus der Serie „Greasy little Still Lives“; Lack, Caparol, Materialcollagen; ca 30 x 40 cm | © Rolf Schindler, VG Bildkunst Bonn 2020

Wir beginnen also mit den Literaten: Angesichts von Schindlers Zeichnungen kamen wir auf viele Namen: Homer (Odysee) , James Joyce (Ulysses), Thomas Pynchon (V), George Orwell (1984) natürlich oder auch Harry Mulisch (Die Entdeckung des Himmels), aber keiner beschreibt so unglaublich zwingend wie Franz Kafka in “Der Prozeß“ das System: das „System“, von dem wir wissen, das wir aber nicht erkennen und verstehen, geschweige denn überschauen oder gar ändern könnten, das uns als kleines Rädchen vereinnahmt und kontrolliert. Alles ist durch ein nicht sichtbares und doch auch nicht zu ignorierendes Netz überdeckt, ein Netz, das alles verbindet.

Zeichnung; ca. 150 x 150 cm
© Rolf Schindler, VG Bildkunst Bonn 2020

Alle Personen haben auf irgendeine Weise mit dem Prozess zu tun, sie unterscheiden sich insbesondere durch ihre vermutete jeweils verschiedene Nähe zur Macht, zu denen Personen also, die, vermeintlich, den Prozeß steuern und deren Existenz aber allemal fraglich ist. Das System des Prozesses steuert sich selbst; es bedarf keiner bewussten Kontrolle.

Als einzelne Menschen sind wir Teil des Systems, von dem wir wissen, ohne es ändern oder auch nur in seiner Gesamtheit erkennen zu können. Das haben wir schon irgendwo gesehen, deshalb kommen wir zu den Cineasten.: Auch hier könnten wir weit zurückgreifen oder uns auch auf die Gegenwart fokussieren: Fritz Langs Metropolis, gerade wieder aktuell durch die entdeckte komplette Version, Charlie Chaplin, bei dem ja unser Thema „Überkomplexität“ (Moderne Zeiten) einen wichtigen Kern bildet, James Camerons „Terminator“, wo ja das Netz – Skynet – als von Menschen erzeugtes Abwehrsystem schließlich die Kontrolle übernimmt und die Menschheit entsorgt.

Der Intensität und Radikalität der Zeichnungen Rolf Schindlers aber scheint mir “Die Matrix“ am nächsten zu kommen.
Hier sind wir Menschen gar nicht mehr reale Wesen, sondern nurmehr Teile eines (Software)Programms, in der alles autonome Handeln kaum mehr Illusion ist.
Bei allem Respekt vor den Machern dieses fesselnden Films: die Grundidee ist schon etwas älter: Und damit kommen wir zur nächsten Kategorie/Schublade:

Die Philosophen: Der englische Sprachphilosoph Hilary S. Putnam hatte diese Idee schon in den 1980er Jahren in einem Aufsatz entwickelt: „Gehirne im Tank“ ist der seltsame Titel und es geht um die Frage: Ist es möglich, dass wir gar nicht wirklich existieren, sondern, eben nur Gehirne in einem Tank sind, nur Teil sind in einem Experiment einer höheren Zivilisation?

Ermutigend, dass Putnam am Ende seiner ausgefeilten Reflektionen diese Möglichkeit ausschließen zu können glaubt.
Und doch ist die Suggestivkraft solcher Gedankenmodelle nur dadurch zu erklären, dass wir Menschen uns unserer Autonomie und unserer Freiheit keineswegs sicher sind.

Fotoübermalung aus der Serie „Yesterday’s Papers“; ca 30 x 40 cm
© Rolf Schindler, VG Bildkunst Bonn 2020

In unserer modernen Mediengesellschaft würde man normalerweise jetzt behaupten, dass diese Zweifel heutzutage immer stärker werden, so wie ja früher auch alles besser war, vor allem die Zukunft.

Bleiben wir aber bei der Philosophie, so sehen wir, dass Zweifel an der Autonomie des Menschen eine längere Geschichte haben. Denken wir etwas an Günter Anders’ “Die Antiquiertheit des Menschen“, die schon 1956 erschienen war.

Zeichnung; ca 150 x 150 cm | © Rolf Schindler, VG Bildkunst Bonn 2020

Über Aktualität und Relevanz dieser Arbeit und aller oben beschriebenen Assoziationen, die mir angesichts der Zeichnungen von Rolf Schindler einfallen, ließe sich trefflich streiten.

Die Aufgabe der Kunst ist es, sichtbar zu machen.
Rolf Schindler zeigt uns, dass wir in einer Welt leben, von deren Ganzem zu träumen wir verlernt oder vergessen haben.
Rolf Schindler fragt und schreit erschütternd leise:

Leben wir in einer Welt, in der wir

uns | verloren ?
Jürgen Linde, im Juni 2011