Die Wirklichkeit als Fiktion
Harald Schwiers im kunstportal-bw
Joachim Zelter ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen, die aus Baden-Württemberg kommen. Und das ist keine Lobhudelei. Dafür sprechen eine Reihe von Gründen. Guten Gründen. Zelter publiziert nicht nur häufig (oft eher kurz, meist dennoch in Romanform), er greift so wesentliche, aktuelle gesellschaftliche und politische Themen auf. Die finden sich natürlich auch bei anderen Autorenkollegen (und – nebenbei – sicher ist auch Martin Walser vom See ein politischer Autor!), aber Joachim Zelter ist schnell. Er reagiert wie die anderen auch seismographisch auf gesellschaftliche Befindlichkeiten. Die haben gelegentlich in seinen Büchern auch etwas mit der Lebensart der Menschen im gemütlichen und von der Sonne verwöhnten Südwesten zu tun, aber nicht ausschließlich.
In seinem jüngsten Werk „Die Verabschiebung“ besagt schon der Titel, um was es geht: 2015 ff; d.h. die Folgen der Flüchtlingswelle, die auch an den Säumen des wohlhabenden Südens der Republik leckte. Doch wer aufgrund des Titels, der schon nicht nur vom Sprachwitz des Autors zeugt und eine Richtung vorgibt, annimmt, es gehe eher um die rechten Machenschaften in diesem unserem Land in Sachen Anti-Asylbewerber, der fehlt weit.
Zelter wäre nicht Zelter, würde er nicht einen ganz anderen Zugang finden. Er lässt seine beiden Protagonisten, die Bibliothekarin Julia und ihren pakistanischen Freund Faizan ohne irgendein „Aufenthaltspapier“ – beide in sich aus unterschiedlichen Gründen traurig – heiraten, damit Faizan eine Berechtigung zur Einbürgerung hat. Doch damit beginnen die Probleme, wie man sich leicht vorstellen kann.
Denn: Was kümmert die Behörde ein Ehe-Papier, das auch aus schnöder Gefälligkeit heraus hätte entstanden sein können? Und damit – zumindest moralisch – ja gar nicht rechtens wäre. Um Recht geht es den Behörden offenbar auch gar nicht, eher so beschreibt Zelter, es geht ihnen eher um beharrliche behördliche Ignoranz und die Anzahl der Damen- und Herrenschuhe im Schrank. Auch anhand der Zahnbürsten lässt sich in unserer Republik der Wert einer Ehe besser ablesen, als an den Buchstaben des Gesetzes.
Und natürlich wird Faizan absehbar nach kurzen Intermezzi, die von Buchseite zu Seite hoffnungsloser werden, nach Pakistan abgeschoben, obwohl er einer gut dotierten Arbeit nachgeht. Aber: Er hat halt kein Papier, bestens falls eine Duldung. Und die besagt so Null und Nichts. Schließlich erfüllt Julia ihre Rolle als Ehefrau, wie man es als Leser von ihr erwartet, aber es gesellschaftlich nicht BRD-adäquat erscheint. Sie folgt Faizan nach Pakistan. Mit nichts. Ab in die Wüste!
Zelter beschreibt in seinem jonglierenden Ostinato-Stil, den er inklusive kleiner bis kleinster Verschiebungen (siehe den Titel) in Wort, Ton und vor allem Inhalt beherrscht wie keiner, bis einem der Kloß im Hals stecken bleibt. Vor Wut angesichts der Blödheit und Borniertheit hiesiger Entscheidungsträger.
Zelter als Agitator. Die Realität macht es auch im Gewand der Fiktion…
Joachim Zelter, Die Verabschiebung, Roman, Kröner Verlag, Edition Klöpfer, 160 Seiten, Halbleinen mit Lesebändchen, ISBN 978-3-520-75201-7, € 18