21. August – 24. Oktober 2021 | Kunstmuseum Heidenheim
Anne Carnein
Von Wurzeln und Blüten
Im Zentrum des Werks der Bildhauerin Anne Carnein stehen Pflanzen und Pilze. Die Künstlerin beobachtet deren Aufbauten, Wuchsformen und Farben und überführt diese in Skulpturen. Aus der Entfernung wirken die grazilen Arbeiten wie objektive Bestandsaufnahmen realer Naturformen. Bei genauerer Betrachtung entpuppen sich die Gebilde jedoch als deutlich vielschichtiger.
Das zeigt sich bereits am verwendeten Material. Carnein vernäht per Hand Textilien, häufig bereits getragene Kleidungsstücke. Die Skulpturen bekommen so eine stärkere haptische Qualität als es bei anderen Materialien der Fall wäre. Der Wunsch der Betrachterinnen und Betrachter, die Arbeiten zu berühren, stellt zudem eine körperliche Verbindung her. Diese wird zusätzlich betont, wenn es sich um gebrauchte Blusen, Hosen oder T-Shirts handelt. Denn die Tatsache, dass die Stoffe einmal genutzt wurden, verleiht ihnen einen zusätzlichen Mehrwert und verbindet sie mit der Geschichte eines Menschen. Die Idee eines Re- oder Upcyclings ist für die Künstlerin kein reiner Selbstzweck. Es steckt durchaus auch eine symbolische Dimension dahinter. Denn so wird das Thema des natürlichen Kreislaufs, was durch die Darstellung von Pflanzen ja bereits inhaltlich angedeutet wird, auch im Material aufgegriffen.
Dass die Skulpturen reale Pflanzen nicht abbilden, sondern interpretieren, zeigt sich an drei Aspekten. Zum einen ist es die Farbe. Carnein nutzt ihre Stoffe wie ein Maler seine Farbpalette. Changierende und matte, leuchtend bunte oder farblich zurückhaltende Stoffe werden von ihr kombiniert und zusammengenäht. Schaut man genau, dann blitzt mitunter ein sehr kräftiger unter einem sonst dezenten Farbton hervor und es zeigen sich Farbmischungen, die man so in der Natur nicht finden würde, sondern die kulturelle Erzeugnisse moderner Textilproduktion sind.
Einen weiteren Hinweis auf die freie künstlerische Herangehensweise geben die Wurzeln der Pflanzen. In der Natur würde man diese gar nicht sehen, da sie im Verborgenen liegen. Carnein macht sie sichtbar, da sie an der Ganzheit einer Naturform interessiert ist. Doch würde man das textile Wurzelgeflecht mit einer wissenschaftlich korrekten Zeichnung vergleichen, würde man schnell sehen, dass die Künstlerin nicht akribisch nachbildet, sondern die Formen frei erfindet.
Besonders auffällig ist die Freude der Bildhauerin an der Erfindung, wenn sie neue hybride Formen schafft. Vor allem in kleineren Arbeiten kommt es immer mal wieder zu überraschenden Wuchsformen. So wachsen einem Pilz beinahe menschliche Beine oder eine Blüte wirkt, als habe sie knollige Rhizomgebilde mit denen sie davonläuft.
Entscheidend ist bei diesen Neuschöpfungen jedoch die Vorstellungskraft der Betrachterinnen und Betrachter. An diese appellieren alle ausgestellten Arbeiten. Immerhin neigt der Mensch dazu, seine Umgebung zu verrätseln und symbolisch aufzuladen. Gerade Blumen bieten sich hierfür besonders gut an. Über die gesamte Kulturgeschichte hindurch wurden Blüten zu Bedeutungsträgerinnen, zu Symbolen und Emblemen. Das mag daran liegen, dass der Lebenszyklus einer Blume leicht beobachtet werden kann. Aus einem Samen oder einer Zwiebel entstehen in kürzester Zeit Stiele und Blätter, später eine Knospe, die in den beeindruckendsten Farben blühen kann, um wenige Zeit später zu verblühen.
Es verwundert daher nicht, dass zahlreiche Autorinnen und Autoren in Carneins Werk immer wieder Verbindungen zu barocken Stillleben mit ihren Vanitasmotiven suchen. Tatsächlich beschränkt sich diese Verbindung auf die Faszination für Pflanzen als Bedeutungsträger. Morbides oder Vergängliches sucht man hingegen in den Werken der derzeit im Allgäu lebenden Bildhauerin vergebens. Vielmehr zelebrieren die Arbeiten die Schönheit des Wachstums, die Wunder der Natur und laden dazu ein, diese mit eigenen Erinnerungen und Vorstellungen zu füllen. Mitunter geben einzelne Pflanzenkombinationen jedoch auch einen Deutungsrahmen vor. Wenn Carnein etwa eine Erdbeere und eine Kartoffel einander gegenüberstellt, dann stellt sie zwei sehr konträre Gewächse nebeneinander. Auf der einen Seite eine Frucht, die für Genuss und Luxus steht, zum anderen ein Grundnahrungsmittel mit langer Lagerzeit. Beide sind zwar vom amerikanischen Kontinent importiert, ihre Entwicklung ist jedoch eine gänzlich unterschiedliche.
Wie bereits erwähnt zeigen sich viele Zusammenhänge in den Arbeiten von Anne Carnein erst bei eingehender Betrachtung. Und die lohnt sich!
Über die Künstlerin:
Anne Carnein wurde 1982 in Rostock geboren. 2007 zog sie nach Karlsruhe, um dort an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste zu studieren. Sie schloss ihr Studium der Bildhauerei 2013 als Meisterschülerin bei Stephan Balkenhol ab.
Carnein konnte ihre Arbeiten bundesweit in Einzel- und Gruppenausstellungen sowie auf Kunstmessen präsentieren. Hierzu gehören der Freiburger Kunstverein, die Kunsthalle Mulhouse, das Kunstmuseum Ravensburg, das Württembergische Landesmuseum, die Kunsthalle Rostock sowie die Kunsthalle Tübingen. Die Bildhauerin lebt und arbeitet im Allgäu.