State and Nature | Ausstellung 17. Juli – 31. Oktober 2021 | Staatliche Kunsthalle Baden-Baden
Ausgangspunkt der Ausstellung ist zunächst die Kunsthalle selbst mit ihrer historischen und aktuellen Verortung im dynamischen urbanen Gefüge der Stadt zwischen Repräsentation, Neubestimmung und Luxus. Das Team der Kunsthalle entwickelte die Ausstellung unter pandemischen Bedingungen – in einer Zeit also, in der Strukturen sichtbar und die Kategorien von Ordnung und Unordnung, Sicherheit und Schutz, Außen und Innen in Frage gestellt worden sind. In Anbetracht der pandemiebedingten Schließung zahlreicher Geschäfte und kleiner Wirtschaftsbetriebe hat das Team zu bestimmten Orten im Stadtzentrum geforscht, um eine fußläufige Route durch die Stadt festzulegen, die den Rahmen für die globale Klimakrise, unsere Verbindung mit der Natur sowie die aktuellen städtischen Strukturen und Stadtmöbel setzt.
SINA ATAEIAN DENA: AHVAZ (2018/2021)
Ahvaz, Hauptstadt der Provinz mit den wichtigsten Ölvorkommen im Iran, liegt im Südwesten des Landes und war im ersten Golfkrieg nur 80 km von der Frontlinie entfernt. Unabhängigen Berichten zufolge setzte Saddam Hussein dort im Laufe des acht Jahre dauernden Krieges 387 Mal chemische Waffen ein. Die Chemikalien stammten aus der Sowjetunion, Ost- und Westdeutschland. Das eingesetzte Senfgas tötete Kämpfende und Zivilbevölkerung gleichermaßen und bildete Rückstände im Boden. Nach Ende des Krieges wurde es in der Stadt aufgrund des Klimawandels immer heißer und der chemisch vergiftete Boden trocknete langsam aus. Ahvaz gilt heute offiziell als die heißeste Stadt der Welt. Durch den vom Wind aufgewirbelten toxischen Staub hält Ahvaz einen weiteren Rekord: Sie ist die Stadt mit der höchsten Luftverschmutzung weltweit. An rund 290 Tagen im Jahr liegt ein dichter, mit Chemikalien durchsetzter Dunst über der Stadt, den die Einheimischen „Sandsturm“ nennen. Noch lebt die Stadt vom Öl, aber wenn das zur Neige geht, wird Ahvaz zur Geisterstadt. Es drohen zigtausende Klimaflüchtlinge. Eine riesige Krebswelle! Für einen großen Teil der Weltbevölkerung liegt die durch die Erderwärmung ausgelöste Apokalypse noch in der Zukunft. Für uns Menschen in Ahvaz ist sie bereits Realität. Die rote Linie wurde bereits überschritten.
REGINA JOSÉ GALINDO: RAÍCES (2015)
Regina José Galindo’s Performance mit dem Titel Raíces wurde im Botanischen Garten in Palermo im Jahre 2015 aufgeführt – dem Jahr, in dem eine der größten Migrationsbewegungen in Europa stattfand. In dieser Arbeit setzt sich die Künstlerin mit Themen der Koexistenz und dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur auseinander. Die Bäume und Pflanzen im botanischen Garten, die aus allen Teilen der Welt stammen, waren während der Performance die Protagonisten des Geschehens. Menschen, die selbst eine Migrationserfahrung gemacht haben, waren dazu eingeladen die Wurzeln der Bäume und Pflanzen zu umarmen. Dadurch konnte Galindo einen Raum schaffen, der geprägt war von einem Moment des friedlichen Zusammenlebens.
In State and Nature präsentieren wir eines der 21 Bilder der Fotoserie, durch die die Performance dokumentiert wurde. Die Arbeit wird in einem leerstehenden Geschäft in der Luisenstraße 24 gezeigt. Regina José Galindos Arbeit wirft Fragen bezüglich der menschengemachten Existenz der Bäume und deren Verbindung zu institutionellen Agenden auf.
CENGIZ TEKIN: PASTORALE SINFONIE (2021)
Die Arbeiten von Cengiz Tekin spielen oft auf mögliche Krisen an und nutzen nicht nur die Formen, Sprachen und Strategien der Kunst auf rebellische Weise, sondern verleihen auch der tatsächlichen Rebellion mit der Kraft des Schweigens und des Widerstands Ausdruck. Die Videoinstallation Pastorale Sinfonie (2021) des in Diyarbakır lebenden kurdischen Künstlers zeigt die Zerstörung jahrhundertealter Siedlungsstrukturen durch gigantische Staudammprojekte. Tekin wirft die Frage auf, wo die Grenze zwischen der vom Menschen geschaffenen Umwelt und dem Zusammenbruch der Natur in den aktuellen Notstandsgebieten verläuft. Diese neu in Auftrag gegebene Arbeit entstand in verschiedenen Teilen Mesopotamiens, insbesondere in den antiken Städten und Bezirken, die sich entlang der Fluss- und Wasserressourcen befinden und denen durch staatliche Beschlüsse und Vorschriften Schaden zugefügt wird. Protesten und Widerstand von zivilen Organisationen und kommunalen Projekten zum Trotz wurden diese historischen und archäologisch wertvollen Stätten überflutet oder aufgegeben. So erreichte der Wasserstand des aufgestauten Flusses Tigris am 1. April letzten Jahres eine Höhe von 498,2 m (das ist kein Aprilscherz) und überflutete die gesamte Stadt Hasankeyf. Im Rahmen von Off-sites (24/7) bringt das Team der Kunsthalle die zweikanaligen Videos in den öffentlichen Raum und präsentiert sie in einer Straße zusammen mit der Geschichte darüber, wie das Wasser die Stadtstruktur und die Straßenführung in früheren Phasen der menschlichen Besiedlung in Baden-Baden geprägt hat.