Welt und Schicksal. Ein Roman über das Deutsche Theater in Kasachstan.

Literaturtipps von Uli Rothfuss

von Uli Rothfuss

Ja. Zwei Sätze in diesem Buch sind es, die mich ergreifen, geradezu erschüttern, die für mich die Essenz dieses erzählerischen Mammutwerkes darstellen, beide gegen Ende des Buches: 1. Die Frauen ohne Gedächtnis brauchen Gesellschaft, und 2. Liegt in der Wahrheit ein Scheitern? – Beides Sätze, die nachdenken lassen: über dieses Buch, und über das Leben überhaupt.

Ich kann sagen, das Gelesene, die Geschichten dieses Buches, begleiten den Leser weiter, wenn er das Buch aus der Hand legt. Ich gleiche Biografisches ab mit dem Erzählten – als jemand, der im Westen Deutschlands aufgewachsen ist, aber von Jugend an interessiert war, was da hinter dem Eisernen Vorhang passierte; und so hatte ich, literatur-, theaterinteressiert, auch von diesem deutschen Theater weit, weit im Osten, in Kasachstan, gehört, mir gar, soweit es ging, Unterlagen besorgt. Eleonora Hummel, mit eigener Biografie als Kind der deutschen, in die ferne ostasiatische Steppe verschleppten Minderheit, aufgewachsen auch im Umfeld der erhalten gebliebenen Dialektsprache, zumeist des Schwäbischen Anfang des 19. Jahrhunderts, als der Exodos unter anderem aus dem deutschen Südwesten unter Versprechungen auf Land und gutem Leben begann, die Siedler sich aus den deutschen Hungersgebieten auf den Weg machten, sie erzählt deren Geschichte der 1980er Jahre an exemplarischen Beispielen der Mitglieder des deutschen Theaters, gegründet zur Stärkung, zur Stabilisierung der Minderheit – was alles nichts mehr nutzte, die Auswanderungswellen waren vorprogrammiert, und mit der schrittweisen Öffnung, der Auflösung des Sowjetreiches, begann auch die massenhafte Übersiedlung der deutschen Minderheit, hunderttausendfach innerhalb von Monaten.

Ich tauche bei diesem Buch tief ein in die Sorgen, Nöte der jungen, dann älter werdenden, nachwachsenden Generation der Russlanddeutschen, die aufzugehen drohen in der russischen Mehrheitsgesellschaft, die kaum mehr der deutschen Dialektsprache mächtig sind, und die oft nur noch an den Namen als deutschstämmig ausgemacht werden können. Das Projekt Theater, von höchster Ebene durchgesetzt, bewirkt Rückbesinnung, das Lernen der Sprache auch eine Näherung an Träume, wiederherzustellen, was im Krieg rüde aufgekündigt worden war: die deutsche Republik, autonom innerhalb der Sowjetunion, oder später in Russland. Es blieb bei Träumen. Das ist das eine.

Das andere sind die typenhaft herausgearbeiteten Charaktere. Wie die unermüdlich von der Wiederherstellung der Republik der Deutschen träumen, die unentwegt und heimlich Flugblätter drucken, um diese bei den Tourneen durch die kasachischen Steppendörfern den Deutschen zu verteilen, die allesamt schon auf gepackten Koffern sitzen.

Und darin liegt eine Erkenntnis aus der Lektüre dieses Buches: ob die Frauen ohne Gedächtnis tatsächlich Gesellschaft brauchen, und ob in der Wahrheit immer auch ein Scheitern liegt. Ja, Eleonora Hummel bleibt beim Erzählen dieser Geschichten sich treu, sie widmet sich intensivst einem Thema – hier dem Experiment eines Deutschen Theaters gegen Ende der Sowjetunion, in der Teilrepublik Kasachstan – eine Besonderheit, eine Skurrilität der Geschichte, könnte man meinen, aber eine, die es gab, mit viel Hoffnung bei allen Beteiligten, zu einer Zeit, als in der Sowjetunion noch vieles denkbar war, bei einzelnen – von den Staatsorganen freilich wenig ernstgenommen, sogar noch die Wiederherstellung einer mit Freiheiten ausgestatteten Republik der Russlanddeutschen. Die Geschichte wollte einen anderen Weg: als sich die Möglichkeit bot, begann der Exodus massenhaft, die Ausreise in den vermeintlich goldenen Westen, ins Mutterland, in der Erwartung, dass man als Deutsche erwartet würde – welche Enttäuschung folgte – auch das spart die Autorin im Schlussteil des Buches nicht aus, der mir schmerzhaft klarmacht, der wirklich beim Lesen weh tut, eingedenk dessen, was in der Weltgeschichte hätte auch in jüngster Zeit anders laufen können; ich stelle mir nur vor, welch ein fortdauerndes, wundersames Experiment es hätte geben können, wenn man den Deutschen des fernen Ostens oder des Kaukasus wirklich hätte Perspektive bieten wollen, wenn die Deutschen hier weiterlebten, ihre Existenzen weiter aufbauten, statt sich dafür zu entscheiden, massenhaft Flucht zu ergreifen und im goldenen Deutschland ihr Heil zu suchen, wo niemand auf sie wartete, wo sie als kulturfremd wahrgenommen wurden, wo Probleme vorprogrammiert waren. All das thematisiert die Autorin, schonungslos, mit ihrer so sogartig den Leser mitnehmenden Erzählart, die mich seit ihrem ersten Buch fasziniert.

Sie, die Autorin, hat sich eines großen Themas angenommen, das erstmal ein wenig exotisch, herbeigeholt aufscheint, ein Thema, das es aber real gab, mit Menschen, die agierten, die Hoffnungen hatten, die ankämpften gegen den Zeitgeist des Weglaufens, und die dann doch kapitulierten, um mitzugehen, mit in den Westen, und dann hinterherzuträumen dem, was zurückgelassen wurde, indem sie z.B. eine Jubiläumsfeier der Gründung des Deutschen Theaters im fernen Kasachstan feiern, in einer Kneipe, natürlich mit russischem Wodka und Pilmeni, tief im Westen der deutschen Republik.

Geschickt konstruiert die Autorin diesen Roman – am jeweils Beispiel der Akteure des Theaters, von der Auswahl und der Theaterausbildung an der Hochschule (interessant, die Ausgewählten, mit Namen Riedel, Munz, Kraushaar usw., müssen erstmal die deutsche Sprache lernen, aufbauend aus Resten schwäbischer Anklänge, hart am Russischen geprägt), zeigt sie Zeitumstände auf (wie z.B. Emilia Riedel für den KGB angeworben wird und das gar als Ehre empfindet), oder wie in den Dorfkolchosen bei den Theaterreisen die Pläne der Republik thematisiert werden, gut geheißen, obwohl die meisten schon Hab und Gut verkauft haben, um möglichst schnell wegzukommen, bevor eine weitere Wende der Geschichte die Ausreise verhindert. Eine spannende, eine den Fortgang der Geschichte prägende Zeit, die im Großen Weltgeschichte änderte, Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, und im Kleinen das Aus der deutschen Minderheit in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion (und viel mehr, auch in z.B. Rumänien, Ungarn, dort unter anderen Voraussetzungen aber mit gleichem Ergebnis) bedeutete.

Was mir wichtig ist, bei einem Buch, und ganz besonders bei diesem: Wie erzählt es die große Geschichte im Kleinen. Die Autorin recherchiert tatsächlich jedes Detail, schöpft aus eigener Erfahrung – sie kam als Jugendliche aus Kasachstan in die DDR – , und sie versteht das zusammenzuführen zu im großen Roman kleinen Geschichten, zu vielen Einzelschicksalen, die uns Weltgeschichte im Detail deutlich machen. Es ist gerade deshalb kein Nischenbuch, kein Roman für an solcher Exotik Interessierte, sondern ein grandioser Roman, der Menschliches, der Hoffnungen, Enttäuschungen, der Schicksale bis ins Heute hinein verfolgt und uns so die Geschichte unserer Zeit aufzeigt. Und wieder einmal zeigt sich mir: aus gepaarter Dokumentation und ergänzender Fiktion erschließt sich mir mehr an Zeitgeschichte als aus all den wissenschaftlichen Forschungen. Ich bin bewegt, der Roman wirkt nach, berührt mich, vor allem in einer Frage: wie alles hätte anders sein können, wenn sich nur Kleinigkeiten der Weltgeschichte anders verhalten hätten. Herausragend. Ein Buch, das uns Welt aufzeigt und Schicksal im Detail vermitteln kann. Erschütternd und wunderbar zugleich.

Eleonora Hummel: Die Wandelbaren. Roman. Verlag müry salzmann, geb., 464 S., Salzburg 2019. 24 €.