„Frischer Schnee“, Gedichte von Harald Gröhler
Buchtipps von Uli Rothfuss im kunstportal-bw
Immer wieder Gedichte, das empfehle ich jedem (damit sind auch Leserinnen gemeint!), der mich um Lektürehinweise bittet, und das gerade in dieser verstörenden Zeit. Warum? Weil keine andere Gattung der Literatur auf so engem Raum das eigene Denken, spiegelt und aktiviert, weil keine andere Gattung so intensiv, direkt in mich hineinwirkt, meine Hintergründe, meine Bildung, meine logischen wie auch sozialen Vernetzungen aktiviert und mir Einsichten vermittelt, die intensiv mit der Zeit und mir selbst zu tun haben.
So die Gedichte von Harald Gröhler – eines Altmeisters der Literatur aus Berlin, zu Zeiten auch in Köln. Sein Leben umfasst einen großen Teil des vergangenen Jahrhunderts; und in keiner Silbe ist er, auch in seinen Prosatexten nicht, aber schon gar nicht in seinen Gedichten, antiquiert; in vielem, in den Themen, in der Vielfalt, der Modernität der Form. Dazuhin, als studierter Psychologe hat er per se viele Einsichten und Einblicke in die menschliche Psyche, – bis hin zu den Abgründen, in die er mit Interesse, Neugier und großer Formulierungslust wie -sicherheit blickt; das ihm als Fundus zur Verfügung steht, und er mit der Vielfalt seiner Möglichkeit gestalten kann.
In diesem schmalen Gedichtband, das erste im Band enthaltene Gedicht ist auch gleich das Titelgedicht, Frischer Schnee, reißt er die gesamte Bandbreite menschlicher Themen an, die auch nur vorstellbar ist; wenn auch aus seiner ganz spezifischen Perspektive, mit der er uns, den Lesern, durchaus neue, ungewohnte Blicke auf das Sujet ermöglicht; dabei in einer weitgehend reduzierten Sprache, in einer Sprache, die direkt vermittelt, die nicht verschnörkelt verkompliziert – sondern uns den direkten Zugang zulässt: Frischer Schnee// Fort/die Geräusche … – wer, der den Schnee kennt, liebt, kennt dieses Gefühl nicht: man blickt am Morgen hinaus und sieht, es hat über Nacht geschneit, und alles, alles ist anders: die Stimmung, das Bild, das sich mir zeigt, die Töne der Welt. Fort/ die Geräusche – damit ist alles gesagt, und der Dichter versteht es, all diese Eindrücke in zwei Verse zu packen. Und davon ausgehend kommt er zur höheren Einsicht, ein paar Verse später: den fehlenden Stapfen, … Was muss geschehen sein,/wenn der Schnee mal ein Stück weit/ unberührt blieb? Eine Frage, die in uns dringt, die mich weiter beschäftigt, mich darüber nachdenken lässt, diesen „Durchlass zu vollkommen anderer Welt“ zu bekommen.
Der Dichter versteht es, uns, die Leser, mitzunehmen, uns ausgehend von einfachen, schlichten Bildern zu inspirieren, zu ganz Neuem zu kommen, intellektuell wie in den Gefühlen.
Das zeigt sich auch bei seinen weiteren Gedichten, meinem Liebling im Buch z.B. – Der Runde, ich, Mond. Er steigt ein mit dem grandiosen Satz: … und das erleuchtete Haar Berenices./ Das Haar ist ein Sternbild. – Und er kommt zur Frage: Und was ist der Unterschied zwischen Ich und Ferne? Ja, was ist der Unterschied? Ich hier, die Ferne dort draußen? Oder die Ferne auch in mir? Der Ausblick: … unaufhörlich erreich ich seitdem/ den Horizont. Ja, ich, Leser, kann diesen augenblicklich erreichen, wenn ich mich auf diese Gedichte einlasse. Gedichte, die mich an das Ende dessen, was ich gerade noch sehen kann, heranführen.
Man könnte sich einen Spaß machen und nur die Einstiege in die Gedichte lesen, die ersten zwei Verse: Ein Baum,/ der noch Blätter hat. – Und darüber nachdenken. Was an Welt erschließt sich einem da? Es ist wie ein Blick in eine fremde Welt, die einem von irgendwoher bekannt vorkommt. Die man kennt, selektiv, die irgendwo aus dem eigenen Inneren aufscheint, und über die man hier mehr, näheres, erfahren kann – und will!
Noch einen Hinweis auf das wunderbare Gedicht: Eine Kehre, ganz am Ende des Bändchens – wieder ein im positiven Sinn erschütterndes Bild am Anfang: In der Rose/ hör ich Geister lachen … man denke nur mal kurz über dieses Bild nach, es durchwirbelt alle Vorstellungen und ist doch nachvollziehbar, dann der Bezug auf mich, ein paar Zeilen weiter: Ihr rotes Blatt, mein/ eigener Geruch … – und dann das Verschicken ins Allgemeine – Je älter du wirst,/.. – klar, strukturiert und doch überraschend in seiner Wirkung, allgemein und ganz persönlich auf mich. Hervorragend komponiert!
Es ist ein schmaler Gedichtband, aber jedes Gedicht für sich lohnt Lektüre, Beschäftigung, lohnt den Gedanken nachzugehen, die sich augenblicklich vor mir als Leser auftun; Gedichte als Sichtbarmacher, als Augenöffner. – Unser Dichter Harald Gröhler schafft dies in voller Beeindruckung. Großartiges Buch.
Harald Gröhler: Frischer Schnee. Gedichte. Brosch., 32 S., edition virgines, Düsseldorf 2020, 5 €.