Durch die Augen

Beitrag von Paul Blau für das Feuilleton des kunstportals-bw.

Gedicht und Text von Paul Blau zu Weihnachten 2020

Hinter den Masken aber
wohnt der Frühling schon
in den Lippen und im Wort.
Ich sehe ihn herüberschauen
durch die Leuchtschriften,
durch die Farbspiele,
durch die Schönheit all dieser Augen,
die zu sprechen versuchen.
Verstehen kann gelingen,
wenn meine Augen
anfangen zu hören.

Paul Blau |2020 |

Paul Blau: Ausschnitt aus „Wir sehen alles anders“ (Collage von Paul Blau)
© Martin Schmitt

Hallo Ihr Lieben, 
was für ein Jahr neigt sich da seinem Ende zu, ein besonderes Jahr, will ich es einmal ganz wertfrei ausdrücken, ein Jahr, in dem wir alle, ob wir wollten oder nicht, uns neu sortieren und neu bestimmen mussten. Vielleicht haben wir Wege gefunden, vielleicht haben wir uns irgendwie arrangiert, vielleicht überkommt uns ab und zu Sehnsucht danach, wie es vorher war. Nichts ist im Moment wie sonst, und das ist nun schon sehr lange so. Möglicherweise haben wir uns an manche Notwendigkeiten auch schon gewöhnt. Zum Glück haben die Meisten von uns die Fähigkeit, das was ist, anzunehmen, sich spontan um zu orientieren und andere Wege zu suchen. Bei mir ist das auch so. Ich bin viel für mich, ich bin viel daheim, die fernen Länder sind noch mehr in die Ferne gerückt, Begegnungen finden reduziert statt, telefonisch oder digital, die echten realen Begegnungen sind, da seltener, umso wertvoller geworden. Die, welche zusammen leben, sind nicht so sehr allein, aber sie sind vielleicht auch mehr zusammen, als ihnen recht ist. Es kommt zu ganz neuen Spannungsfeldern. Kinder zu haben, die klein sind oder im Kindergarten- und im Schulalter, bedeutet, neue Herausforderungen anzunehmen, familiäres Leben muss völlig anders strukturiert werden. Auch das Arbeitsleben wird neu definiert, Home-Office oder gar Kurzarbeit und Existenzängste sind Umstände, die von einem auf den anderen Tag Realität geworden sind und die in uns etwas verändert haben. Unser Leben steht auf dem Kopf. Es kann hier und dort auch echt zum Verzweifeln sein. Abgrenzungen zwischen Arbeit und Rückzugsort funktionieren nicht mehr, neue Vermischungen entstehen. Und in der Zeitung jeden Tag wieder die Hiobsbotschaften. Ich meine gar nicht nur Corona, sondern auch Terroranschläge, Diktaturen um uns herum, Fake News und antidemokratische Strömungen. Manchmal, wenn ich die Zeitung lese, wird mir schlecht. Doch darf ich nicht vergessen, dass das, was nicht in den Zeitungen steht, weiterhin existiert, das Mitmenschliche, das Miteinander, das Verstehen und das Vertrauen.

Und deshalb gibt es auch diesen Brief für die Zeit zwischen Weihnachten und Jahresbeginn, ein paar Gedanken, dem geschuldet, was mich umtreibt, in der Hoffnung, es mit Euch zu teilen. Ich bin trotz allem jeden Tag zur Arbeit gegangen, habe mich gefreut an dieser Arbeit, die so viel Persönliches beinhaltet, dass sie als sinnvolle und schöne Aufgabe meine Tage vollfüllte, immer vor Augen diese Kinder mit ihrer Behinderung, die weiterhin auf Nähe und Berührung angewiesen sind, weil sie keine andere Sprache verstehen und deren Bedürfnisse wir erfüllen, wenn auch hinter unseren Masken ein wenig verborgen. Plötzlich wurde dieser Raum dort zu einem Freiraum, in welchem, natürlich unter Einhaltung hygienischer Bedingungen, das Leben weiterhin so ähnlich stattfinden durfte oder musste wie immer. Plötzlich wurde diese Arbeit zu einer Empfindungswelt, in der sich glücklicherweise Gegenseitigkeit weiterhin ereignete.

Zu Hause dagegen fühle ich mich manchmal wie im Exil. Und die Abwesenheit von Berührung im psychischen und im physischen Sinne beginnt eine neue Bedeutung zu erlangen. So ist das ja manchmal: erst wenn wir das Gegenteil von etwas erleben, erinnern wir uns an die Bedeutung und an den Wert von etwas.
Was macht das mit uns, wenn wir gesagt bekommen: Bleib daheim. Ich wäge ab, wieviel Isolation ich ertrage. Plötzlich wird das Zusammensein mit anderen Menschen als etwas „Zusätzliches“ bewertet, quasi wie ein „nice to have“, aber die existenzielle Notwendigkeit wird ihm in öffentlichen Aussagen quasi aberkannt.

Was macht das mit uns, wenn wir lernen, dass die Nähe eines anderen Menschen etwas Krankmachendes, gar Feindliches ist? Wo wir doch aus Beziehung und Kontakt leben, wo das doch unser Leben ist? Es geschieht etwas mit uns, was uns etwas von unserer Menschlichkeit wegnehmen kann, wenn wir beginnen, es zu lernen. Der Virus hat eben nicht nur einen körperlichen Aspekt, er löst auch als  Begleiterscheinung psychische Zustände aus.
Die einen Menschen sitzen zu eng aufeinander, die anderen sterben allein. Diese Krise, in der wir uns befinden, hat teilweise zu furchtbaren Situationen von Vereinsamung geführt. Es liegt an uns, an jedem Einzelnen, diese Einsamkeit zu lindern, die der Andern und die eigene, wenn wir die Möglichkeit dazu haben. Wir müssen aufpassen, dass uns nicht alles verrutscht.

Natürlich ist mir klar, dass die Prioritäten sich zu Recht verschoben haben, um gesundheitliche Gefahren von uns abzuwenden. Und dennoch hat sich auch noch eine andere Wunde geöffnet. Zuwendung ist nicht weniger wert, sondern sie fehlt. Das dürfen wir nie vergessen, und wir müssen beharrlich darauf bestehen, es zu spüren. 
So bleibt uns zurzeit eben oft nur die Vorstellung von etwas, was nicht da ist. Aber wir dürfen das Licht nicht aus den Augen verlieren. Verletzlich sind wir, schrieb ich im letzten Jahr. Nun sind wir nicht nur verletzlich, sondern wir sind verletzt.

Doch will ich das nicht so stehen lassen. Wir haben unsere Gefühle. Sie sind uns Wegweiser. Als ich gerade am Fenster stand und aus dem vierten Stock hinunter schaute in die Dunkelheit, da sah ich einen Menschen. der mit einer Taschenlampe, die er vor sich hin hielt, den Weg ausleuchtete. Diese kleine Beobachtung hat mir gefallen, – es kommt mir vor, als wäre sie mir gerade in diesem Augenblick zugefallen.
Unser Empfinden für uns selber und für Andere kann uns weiterhin, auch in dieser schwierigen Zeit, wie eine Taschenlampe sein. Jeder von uns besitzt eine. Vielleicht haben wir sie manchmal verlegt. Aber wenn wir wollen, finden wir sie auch immer wieder. Nicht an jedem Tag, aber manchmal. Vielleicht werden wir durch diese Phase, in der wir uns befinden, angestoßen, uns auf die Suche zu begeben nach dem, was wirklich wichtig ist, – oder wir sind sogar schon dabei, es zu entdecken. Das wünsche ich uns allen. Bleiben wir berührt und berührbar… Alles Liebe von mir fürs neue Jahr!

Paul Blau im Dezember 2020