Teil haben an menschlichen Abgründen – über „Schwindende Schatten“ von Antonio Munoz Molina

Buchtipp von Uli Rothfuss

Auf dem Cover steht „Roman“ – und tatsächlich erzählt der, gleich vorweg gesagt, großartige Erzähler Antonio Munoz Molina, in diesem Erzählstück „Schwindende Schatten“ raffiniert ineinander verwoben gleich zwei oder drei Geschichten, die den Leser mit auf eine Erlebnisreise nehmen, die es in sich hat. Zum einen, ich möchte sie die innere Geschichte nennen, die um den Martin-Luther-King jr.-Attentäter James Earl Ray spielt und seine Flucht von Memphis, dem Ort, an dem er den schwarzen Bürgerrechtler 1968 erschossen hat, über Kanada, London, nach Lissabon; dass Molina so fasziniert und sinnlich über Lissabon schreibt, war der Anlass für mich, zu diesem Buch zu greifen, und dann wieder, nachdem weitere Fluchtpläne in die Hitzekessel Afrikas misslingen, zurück nach London, wo er schließlich festgenommen, nach Amerika überführt und bis zu seinem Tod inhaftiert bleiben wird. Munoz schreibt im Hauptteil des Buches insbesondere über Rays neun Tage in Lissabon.

Parallel dazu, immer wieder in Einschüben, bei denen man erst sukzessive merkt, wie sie sich über die Biografie des Autors mit der Geschichte verweben, erzählt dieser vom eigenen Werden als Autor, geht in Rückblenden in seine schreibenden Anfänge, in die Niederungen seines täglichen Lebens als angehender Schriftsteller, der sich seine Schreibzeiten von beruflichen und familiären Verpflichtungen abkämpfen muss, und dazuhin verarbeitet Molina seine Recherche am Thema Earl Ray als solche, und nicht nur die Ergebnisse der Nachforschungen, der eigenen fortwährenden gedanklichen Beschäftigung mit Attentat, Attentäter und Flucht im Buch.
Und dann erzählt er noch eine sehr anrührende, feine Liebesgeschichte, eine Geschichte der Annäherung des Autors an eine Journalistin, die zur großen Liebe des Lebens wird. Und die ihn schließlich, am Schluss des Buches, mit auf die abschließende Recherchereise nach Memphis, an den Ort des Attentats, begleitet, gewissermaßen sein Anker wird bei den über ihn, nach vorher per Internet und in Archiven durchgeführten Nachforschungen, hereinbrechenden Flut an Eindrücken vor Ort, dort, wo sich alles abgespielt hat.
Autor Munoz Molina hat dabei seinen Stoff durchgehend „im Griff“, so ausufernd er ist, er versteht es, den Leser durch die Labyrinthe der verwobenen Erzählungen zu führen, und zwar sprachlich sensibel und sinnlich, dass er immer weiterlesen möchte, nur weiterlesen. Dem kommt der Autor auch entgegen: man hat den Eindruck, er schiebe den Schluss des Buches, sein eigenes Schreiben am Thema entlang und so auch das Lesen des Lesers, sukzessive in die Länge, und man kommt so in dem 500-Seiten-Buch mit der Lektüre immer weiter und scheint bei höchstem Lesegenuss auf der Stelle zu treten, und es wird keinen Augenblick langweilig, man hat den Eindruck, ewig so weiterlesen zu können.
Oft überlege ich, wenn ich spanische oder portugiesische Autoren lese, was die Autoren der iberischen Halbinsel gemeinsam haben, dass sie den Leser mit ihrer Erzählkunst so in Bann nehmen, so bezaubern mit oft einfachen, zutiefst menschlichen Geschichten. Vielleicht ist es gerade das, dass sie sich, und Munoz Molina ist darin einer der Meister, mit ihren Erzählungen sichtbar selbst darstellen, dass sie sich dem Leser mit viel Bedacht, bei oft aller Dramatik und Tragödie, außerordentlich nah und dennoch sympathisch nähern. Und so das Erzählte zu eigenen Geschichtenvarianten werden lassen – Idealfall eines Romans, dass der Leser ganz in ihm drin ist, mit lebt als einer der Protagonisten.

Munoz Molina arbeitet sich nicht an einem dramatischen Stoff ab, nein: er wird ergriffen von diesem, er begibt sich ganz hinein und beschreibt dies auch, und nimmt uns Leser nicht nur an der Hand und mit, sondern er reißt uns mitten hinein. Das verursacht Herzklopfen. Und das beschäftigt mich, lange über das Lesen des Buches hinaus. Großartig.

Antonio Munoz Molina: Schwindende Schatten. Geb., 512 S., Penguin Verlag, Random House, München 2019. 26 €.