Wolfgang Gießler († 2021)

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„…sein Lächeln strahlte golden.“ – über Wolfgang Gießler 2019 († 2021)

Wolfgang Gießler, © Foto: Privat

“Die Liebe, o Govinda…“ war im Jahr 2004 der Titel des ersten Porträts über den Karlsruher Künstler Wolfgang Gießler.

Ein Zitat von Siddartha aus dem gleichnamigen Roman von Hermann Hesse.

Wolfgang Gießler, dem dieser Text sehr wichtig ist, verdeutlicht damit, dass ihm daran gelegen ist, die einfachen Dinge unserer Welt zu sehen und wert zu schätzen, deren Würde – und oft auch deren Schönheit – sichtbar zu machen.

Nägel V, 1-9, 2013
jeweils 50 x 40 cm | [ Serien ]

Wolfgang Gießler arbeitet wie bisher im beschriebenen Geiste Siddharthas, hat sich aber seit 2004 immer mehr auf die digitale Fotografie spezialisiert. Als Perfektionist arbeitet er dabei mit professionellem Equipment, sowohl was das Fotografieren betrifft, als auch bei der Präsentation seiner Arbeiten in sehr hochwertigen Ausdrucken und Rahmen.

Wolfgang Gießler sieht die Digitalisierung als Erweiterung seiner künstlerischen Möglichkeiten; viele seiner mehrteiligen Arbeiten entstehen unter Einsatz besonderer Software.

Schüssel, 2018, 128 x 158 cm | [ Mehrteilige Arbeiten ]

Die beiden Gruppen unterscheiden sich deutlich: handelt es sich bei den „Serien“ jeweils um eine Gruppe gleichartiger oder verwandter Objekte, zeigen die „Mehrteiler“ (seit 2013) jeweils ein einziges Motiv, das aber sehr groß und aufgeteilt auf mehrere Rahmen. Der Abstand zwischen den Rahmen wird dabei aus dem Originalfoto quasi herausgeschnitten, so dass der Betrachter die fehlenden Details im Geist ergänzen muss.

Im Porträt von 2004 war von der „Balance zwischen Absolutheit und Privatheit“ die Rede. Diese Balance strebt Wolfgang Gießler auch heute noch an, wobei sich die Methode gewandelt hat: stand früher die „Absolutheit“ der geometrischen Ungegenständlichkeit im Gegensatz zur „Privatheit“ der gemalten Oberflächen, so besteht bei den Fotografien der Kontrast zwischen unscheinbaren bzw. persönlichen Dingen und der angestrebten Perfektion der Aufnahme.

Das Interesse des Künstlers an Hermann Hesses Siddhartha und die hier vorgetragene Weltsicht erklären sich wohl durch einen tieferen Zusammenhang: Hermann Hesse gilt ja vielen als „philosophierender Schriftsteller“. In Umkehrung dieser Schwerpunkte würde ich Hermann Hesse eher als einen schreibenden/erzählenden Philosophen bezeichnen.

Hesses philosophisches Denken gibt seiner schriftstellerischen Arbeit den Rahmen und die Richtung; letztendlich geht es ihm um eine Art humanistisches Gesamtweltbild. Insbesondere im „Glasperlenspiel“ formuliert Hesse dieses Paradigma als Denk-Modell eines umfassenden Wissens, in welchem auf dieser Metaebene des Denkens die Zusammengehörigkeit, das Verbundensein aller menschlichen Zivilisationen, Sprachen, Kulturen und Religionen aufscheint. Frieden erscheint hier als Idee der reinen Vernunft.

Rettet die Bienen, 2019, 158 x 216 cm | [ Mehrteilige Arbeiten ]

Dies mag mancher als „nur naiv“ auffassen oder eben als visionären Geist. Intensiv hat sich Hesse mit den Weltreligionen befasst, wobei eine Nähe zum Buddhismus zu erkennen ist.

Wolfgang Gießler nun verbindet den Siddhartha-Text mit dem japanischen Zen-Buddhismus, dessen Ideal der Schönheit und der Kunst der Arbeit Gießlers implizit zugrunde zu liegt: Wabi-Sabi ist hier ein wichtiger Begriff, den direkt zu übersetzen auch nach Ansicht von Experten kaum möglich ist.

Es geht darum, das Schöne, das Stimmige, Harmonische nicht vordergründig zu präsentieren, sondern in den ganz einfachen Dingen diese Wahrnehmungsbestandteile sichtbar zu machen – sichtbar für die, die sich Zeit nehmen zur Kontemplation, zum Sehen. Auch die Verbindung zwischen Kunst und Religion ist hier Thema: die oft vielleicht melancholische Schönheit der Einfachheit hat einen Bezug zur Göttlichkeit.

Wolfgang Gießlers fotografische Arbeit erscheint mir diesem Denken, diesem Weltbild verpflichtet: Die Objekte seiner Fotokunst sind fast durchweg ganz einfache Dinge – etwa seine Arbeitswerkzeuge, Gläser, Paketklammern, Pinsel etc.

Die Möglichkeiten der digitalen Fotografie schöpft er dahingehend aus, dass er mit makroskopischen Digital-Aufnahmen eine Tiefenschärfe erzielt, die mit gewöhnlicher analoger Technik gar nicht möglich wäre und die auch die „normale“ Leistung unserer Augen übersteigt: Wer die in hervorragender Druckqualität präsentierten Arbeiten sehr genau betrachtet, sieht mehr, als sonst möglich wäre.

Die Größe wird trotz hoher Auflösung erreicht, indem mehrere seitlich versetzte Aufnahmen am Computer wie bei einem Panorama zusammengerechnet werden.

Statement, 2019 | 158 x 216 cm (vor der Aufteilung in Rahmen)

Etwa die Fotografien der „Mandarinenblätter“ vermitteln eine Nähe zur Vielfalt und Schönheit der Natur, ohne dabei sentimental oder kitschig zu werden.

Nun ist Wolfgang Gießler nicht religiös, bringt aber doch mit seinem Verweis auf „Siddhartha“ Religion und Philosophie ins Spiel. Wie können wir das verbinden?

Der Siddhartha-Text erinnert uns ja durchaus auch an die Weltsicht, die wir unter dem Begriff des Pantheismus kennen. Hier geht es kurz gesagt darum, das Göttliche in allen Erscheinungen der Welt zu sehen oder zu finden.

Aus der Serie Mandarinenblätter Blatt 8, 2019
40 x 50 cm | [ Mandarinenblätter ]

Immer wieder sind wir in dieser Reihe der Künstlerporträts auf Verbindungen zwischen Wissenschaft und Kunst gestoßen.

Nun erscheint es mir so, dass die Kunst der Wissenschaft vielleicht insofern überlegen ist, als sie der Sphäre der Religion näher zu kommen vermag: der Künstler kann sich mit dem Göttlichen befassen, auch ohne an den „Einen Gott“ zu glauben.

„Ich weiß es“, sagte Siddhartha;
sein Lächeln strahlte golden.“

Jürgen Linde im Juli 2019


Hier der Text aus Hesses Siddharta:
Govinda sagte: Aber ist das, was du >Dinge< nennst, denn etwas Wirkliches, etwas Wesenhaftes? Ist das nicht nur Trug der Maja, nur Bild und Schein? Dein Stein, dein Baum, dein Fluß – sind sie denn Wirklichkeiten?

Auch dies, sprach Siddhartha, bekümmert mich nicht sehr: Mögen die Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin alsdann ja Schein, und so sind sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben. Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die Liebe, 0 Govinda, scheint mir vor allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.
Dies verstehe ich, sprach Govinda, Aber eben dies hat er, der Erhabene, als Trug erkannt. Er gebietet Wohlwollen, Schonung, Mitleid, Duldung, nicht aber Liebe; er verbot uns, unser Herz in Liebe an Irdisches zu fesseln.

Ich weiß es, sagte Siddhartha; sein Lächeln strahlte
golden.
Hermann Hesse
(aus: Siddhartha, Eine indische Dichtung,
Frankfurt arn Main, 4. Auflage, 1975, S. 117)