wer hören will, muß fühlen
„Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist zögern“
So steht es unter dem Bild mit dem Porträtfoto Franz Kafkas, aus dessen Tagebüchern der Satz entnommen ist. Als ich gerade Anja Kniebühlers Katalog studiere, geraten mir Kafkas Bild und dieser Satz in den Blick. Mir wird klar, daß es hier einen Zusammenhang gibt.
Gehen wir also gemeinsam auf eine Forschungsreise, die naturgemäß eher verwirrend beginnt:
Es geht um das Künstlerinnenporträt der Malerin Anja Kniebühler
„Wer hören will, muß fühlen“ ist der Titel und
und mit Literatur geht es los.
Nun, immerhin haben wir zwei Spuren. Kafkas wahre – und zum Nachdenken zwingende – Aussage und eben Anja Kniebühler.
Kennengelernt habe ich Anja am 24.11.1999, bei der Ausstellung von Christian Möller und Axel Brandt im Haus der Kunststiftung in Stuttgart. Die Malerei der auf mich hochsensibel und interessant wirkenden Künstlerin habe ich dann erst viel später entdeckt, bei ihrer Ausstellung gemeinsam mit Julia Eltner in der Karlsruher Galerie von Tempelhoff.
Wie gewohnt verzichten wir hier auf den Versuch, einzelne Werke zu interpretieren, obwohl ich bei der Ausstellung Lust dazu gehabt hätte: „Könnte ich Saxophon spielen wie Jan Garbarek oder wie John Coltrane, so könnte ich fast jedes von Anjas Bildern vorspielen“; so dachte ich dort. Bei den Kompositionen aus Farbflächen spielen auch die speziellen Klangfarben eines John Surman mit hinein.
Wohl nicht zufällig verwenden wir Begriffe wie Komposition oder Virtuosität in Musik und Bildender Kunst gleichermaßen; doch war für mich die Musikalität von Bildern noch nie so evident. Streng subjektiv gesehen, handelt es sich um lyrischen Jazz, vielleicht auch um Kammermusik – jedenfalls kleine Besetzungen.
Anjas Bilder empfinde ich immer wieder als musikalisch; überhaupt enthalten sie weit mehr Elemente, als ich zu benennen vermag.
Ein Grund dafür ist sicherlich auch Anjas eigene Neugier: eine Ausbildung zur Schriftsetzerin ging ihrem Kunststudium an der Karlsruher Akademie voraus; danach hat sie sich noch als Gaststudentin an der Hochschule für Gestaltung mit Kunstgeschichte und Medientheorie beschäftigt.
Ohne Zweifel ist die Musik, die ich hier höre – oder besser: assoziiere – ernste Musik. Trotz gelegentlicher ironischer Anklänge, die sich Anja nicht nehmen läßt, erscheint mir meist eine tiefe Melancholie mitzuschwingen. Tatsächlich hatte ich zuerst „Schmerz“ und „Melancholie“ als zwei von vielen Ausgangspunkten in Anjas Bildern vermutet. Melancholie aufgrund des Wissens über die letztendliche Vergeblichkeit unseres Tuns.
So sind wir schon zurück bei Franz Kafka: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist zögern“. Hier geht es offenbar darum, daß wir – zögerlich und ängstlich – nicht wirklich auf die Ziele zugehen oder den Werten gerecht werden, die wir zu haben und zu vertreten vorgeben oder von denen wir zumindest glauben, daß wir sie haben. Es geht also um Inkonsequenz, um Lüge und Schuld. Die täglichen kleineren und größeren Lügen, die wir für andere haben und für uns selbst brauchen, Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit.
Wenn wir das Ziel nicht erreichen können, so bleibt es uns doch als Aufgabe schicksalhaft gestellt. Der Versuch, dennoch einen Weg zu finden, ist der Versuch, das Leben zu meistern. Die meisten von uns tun dies tatsächlich, aber eben in der nicht-wahrhaften (verlogenen?) Weise, die Kafka – für mich der wichtigste Dichter des letzten Jahrhunderts – in seiner Dichtung so unglaublich treffend beschreibt – von Gregor Samsas „Verwandlung“ bis zu seinem dritten Roman „Das Schloss“ kann man in allen Arbeiten Kafkas Aspekte dieser Sicht auf die Menschen entdecken.
Kafkas eigene Ansprüche an Wahrhaftigkeit waren wohl unerfüllbar hoch. Der Versuch, wahrhaftig zu sein, zwingt zu einem Leben außerhalb der Gesellschaft und ihrer Lügen.
Das Schreiben erscheint als Ausweg, als Chance, zumindest zu sich selbst ehrlich zu sein. Allgemein erscheint die künstlerische Tätigkeit wohl vielen als „rettende Selbstbezogenheit“.
Indem aber die Kunst in ihrer Selbstreflexion eben auch dies thematisiert, bezieht sie sich auf die Welt und die Menschen. Es scheint somit keinen Ausweg zu geben, wahrscheinlich ein Grund für Kafkas sehr frühen Tod.
Und dennoch: es bleibt den KünstlerInnen die wichtige Aufgabe, die Welt wahrzunehmen und sie zu beschreiben und wiederzugeben in all den Aspekten, die in der übermäßigen Lautstärke der modernen Alltagswelt unterzugehen scheinen.
In Anja Kniebühlers Kunst erscheinen sie neu und bleiben für uns erhalten. In ihren meist kleinen Formaten (sehr oft 30 x30 cm) verdichten sich die Ergebnisse feinfühliger Wahrnehmung, aus Widersprüchen heraus kristallisiert Anja in konzentrierter Arbeit heraus, was die Elemente zusammenhält. So zeigt am Ende des Malprozesses die oberste Schicht das, was im tiefsten Grund das Ganze zusammenhält – das Ziel, vielleicht als orientierende Idee (im Sinne von Kants Ideen der reinen Vernunft) auf dem Weg, den es laut Kafka nicht wirklich gibt.
Doch war für Kant die Unerreichbarkeit der reinen Ideen recht problemlos; die Idee erkennen zu können und damit eine Orientierung zu haben, galt ihm als den Menschen genug. Genauso wie der Bildende Künstler sollte auch der Philosoph nicht versuchen, schlauer zu sein als sein Material.
Hier intuitiv näher bei Kant, weiß Anja Kniebühler ihr Material zu respektieren:
„Der malerische Prozess selbst bleibt sichtbar, Pinselspuren werden nicht beseitigt, sondern in die dichte Textur miteinbezogen“ schreibt Dr. Dorothee Höfert in ihrem sehr erhellenden Aufsatz für Anjas Katalog.
Tatsächlich finde ich hierfür ein gutes Beispiel, als ich Anja in ihrem Freiburger Wohnatelier besuche: auf einem neuen Bild war etwas rote Farbe (aus Gründen der Gravitation) in wackeliger Linie nach unten gelaufen. Anja hat die Farbe bewußt sehr spät gestoppt. Diese Linie am Rande wird für den sich Zeit nehmenden Betrachter zum integralen Mittelpunkt des Bildes.
Während in der Oper die Ouvertüre das Thema vorwegnimmt und nachher vertieft und ausdifferenziert, so erscheint uns auch in Anjas Malerei das Ergebnis zuerst. Das Tiefste als Oberstes. Es liegt an uns, die vorangegangenen Ebenen und Elemente zu erahnen, im Ergebnis zu spüren, woraus diese Einheit – die das Weggelassene genauso enthält wie das Gebliebene – entstanden ist.
Die vorangegangene Arbeit der Augen und des Geistes sind nurmehr erahnbar und fühlbar, aufgehoben im sinnlichen Erlebnis einer Malerei, der zuzuhören uns staunen macht.
Indem Anja Kniebühler mit ihrer Malerei all dies beschreibt, geht sie einen großen Schritt auf dem Weg, den es nicht gibt.
wer hören will, muß fühlen.
Jürgen Linde, 2001
Im Jahr 2020 ist ein hierzu ein „Fortsetzungs-Porträt“ erschienen:
the scars of our hearts.