Zweiter Anfang:
„circasiensisches Huhn für 30 Personen, da brauche ich…“
Nein, dazu erst später, wir fangen doch mit dem
ersten Anfang an:
Im Gras
Leichtsinn: die kleine,
sehr gefährdete
weiße Wolke-
hoch
über der schläfrig verwunderten
Vernunft
Dieses Gedicht ist keineswegs von Sibylle Wagner, sondern von Rainer Malkowski. Aber es steht zu Beginn des Katalogs „Sibylle Wagner – performances“, den ich bei einer Art Weihnachtsfeier in der Galerie Hensel und Mages am Sonntag, den 14. Dezember 1997 ansehe. Sibylle Wagner, eine der KünstlerInnen, die dort bei der Ausstellung „das kleine Format“ beteiligt waren, ist bei der Weihnachtsfeier dabei. Endlich ergibt sich die Gelegenheit, mit der bekannten Künstlerin zu sprechen.
Bild links: Sibylle Wagner (Aussstellung in der GAlerie Schrade, Karlsruhe)
Mit Malerei, Performances und Videokunst ist Sibylle Wagner seit Jahren sehr erfolgreich; unter anderem ist sie im ZKM vertreten und zuletzt zeigt der Götz und Moriz-Preis 1997, daß sie auf dem richtigen Weg immer weiter geht. Ihre künstlerische Arbeit ist so vielschichtig, daß wir froh sind, diesmal gleich zwei Texte verwenden zu dürfen, in denen kompetentere Autoren diese beschreiben:
Einmal die Leiterin der Städtischen Galerie Rastatt, Dr. Ingeborg Ströle.,dann den bekannten Kunstjournalisten Rudij Bergmann
Vielen Dank an beide!
Ich schreibe stattdessen lieber über die Künstlerin selbst,
Sibylle, die ursprünglich Schauspielerin werden wollte, Sibylle, die so frech ist, dass sie schon mal deswegen von der Schule geflogen ist und die mich abwechselnd duzt und siezt. Weil: „es ist viel erotischer, einen jüngeren Mann zu siezen“. Malkowskis schönes Gedicht hat sie selbst ausgewählt (also nicht die Herausgeberin des Katalogs) und inzwischen weiß ich, dass es noch viel besser zu Sibylle und ihrer Arbeit passt, als schon damals vermutet.
Nachdem ich sie gestern in ihrem Atelier im elsässischen Wintzenbach besucht habe, weiß ich auch, daß ihre Stimme aus gutem Grund toll nach französischen Zigaretten klingt: So sagte Sibylles Mann, der berühmte Lothar Quinte, einmal in einem Interview über das Miteinander-Klarkommen: „Wir sind beide Raucher, trinken beide gerne und sonst hat sie mal recht und mal ich…
„Du kannst nicht gut Malen“ hat ihre Mutter einmal zu Sibylle gesagt,: man kennt das ja:
ein anständiger Beruf ist immer besser und ansonsten wollte Sibylle Schauspielerin werden, bis sie mit 18, 19 Jahren zu malen anfing.
Also hat Sibylle Wagner Kunst und Deutsch studiert. Danach hat sie gearbeitet und im Lehramt ihr Geld verdient; während sie gleichzeitig mit der Gründung der ersten Karlsruher Produzentengalerie – als ordentliche Achtundsechzigerin – ihren Beitrag gegen die Ausbeutung (sich bereichernde Galeristen – igitt) leistete. Schließlich hat Sibylle damals auch schon professionell gemalt. All dies auf einmal ging 7 Jahre lang gut, dann mußten Grenzen gezogen werden:
Sibylle hat sich ganz für die Kunst entschieden: Malerei, Performances und zunehmend Video sind ihre Ausdrucksmittel. „Mit den traditionellen Mitteln der Malerei, mit den alten Medien ist Sibylle Wagner dem Neuen auf der Spur. Mit Performance und Video versichert sie sich der Malerei.“
Sibylle Wagners „Atelier“ ist ein Haus mit Bildern und Arbeits-Platz in allen Räumen, aber auch Musik fehlt nirgends: Philipp Glass hört Sibylle gern als inspirierende Tonquelle, während des Gesprächs hören wir Laurie Anderson.
Sibylle stimmt mir zu, als ich den „Prozeß“ als das vielleicht wesentlichste Element ihrer Arbeit sehen möchte: Sibylles Bilder verändern sich sehr stark abhängig von Licht und Betrachtungswinkel und auch von der Konzentrationsbereitschaft der BetrachterInnen, sie machen deutlich, wie sehr das Betrachten selbst ein aktiver Prozeß ist. Insofern stellen sie die modische Interaktivität in Frage: wenn der künstlerische Schaffensprozeß in einen kommunikativen Betrachtungsprozeß mündet, ist Kunst immer schon interaktiv.
Die Frage nach Träumen und Wunschprojekten beantwortet Sibylle erstmal sehr konkret: eine „kinetische Skulptur“ soll entstehen; aus Plexiglasscheiben bestehend, ist diese Skulptur, eine „Leinwand“, auf die ein Video projiziert wird, das durch aufsteigenden Nebel erst sichtbar wird. Zur Zeit arbeitet Sibylle daran, für dieses bereits genau geplante Projekt die Finanzierung zu organisieren. Wieder ist der Prozeß im Mittelpunkt; Werden und Vergehen. Nur scheinbar unvermittelt also frage ich Sibylle, ob sie Angst vor dem Tod habe.
Sie verneint, erklärt aber, daß der Tod als Thema immer auch in ihre künstlerische Arbeit hineinspiele, geriete der Tod ganz aus dem Blick, würde etwas fehlen im Ganzen (der Kunst wie des Lebens).
Orinoqo von Sibylle Wagner, 120 x 200 cm (2009); Foto: Sebastian Heck
Überhaupt ist es wohl eine ihrer großen Stärken, zu integrieren, Gegensätze aufzulösen, (scheinbar) getrennte Elemente zusammenzufassen und dann das Wesentliche herauszuarbeiten. So hatte sie auch die Entscheidung, das Lehramt aufzugeben und „nur noch“ künstlerisch zu arbeiten selbst so beschrieben: „…da habe ich vieles zusammengefaßt…“.
Die tendenzielle Beschränkung (besser: Konzentration / Fokussierung) auf wenige Farben, oder besser, auf nur noch schwarz oder weiß – wie es bei Sibylle und noch stärker bei Lothar Quinte zu beobachten ist, oft Reduktion genannt, sollte vielleicht eher „Synthese“ heißen.
In diese Richtung jedenfalls gehen nach meinem Empfinden auch zwei weitere Wunschvorstellungen, zu denen Sibylle mir einmal sagt:
„Vielleicht ist mein Fernziel irgendwann mal Bilder zu malen, die in Schwingung geraten und Filme zu gestalten, die auf der Stelle stehen..bleiben.“
Mit dem dritten Wunsch würde sie frühere Berufsideen mit ihrer heutigen Arbeit optimal „zusammenfassen“: Bühnenbild möchte sie gestalten, am besten zum Beispiel für Stücke von Tschechow oder Botho Strauss. Bühnenbildgestaltung als Synthese aus Malerei, Performance und Schauspiel – hoffentlich klappt das mal…
Apropos Synthese; jetzt paßt dann der „zweite Anfang“: als Sibylle am 29.12. bei SWO zu Besuch kommt, erzählt sie beim Hereinkommen
„circasiensisches Huhn für 30 Personen, da brauche ich…“
Nun, es geht um das Problem, wie eine Künstlerin, die nebenher auch über Kunst, die Welt und die Menschen theoretische Texte schreibt, das reale Leben organisiert: voller starker sinnlicher Eindrücke sind Haus und Umgebung im elsässischen Wintzenbach, wo Sibylle und Lothar Quinte leben. Und zum savoir vivre (so heißt der südwest-way-of-life in Frankreich) gehörte es, „ein großes Silvesterfest für so 30 Leute – und zum Schluß waren es doch 40“ auszurichten
…und das Fest war ein Erfolg: die letzten Gäste gingen am 02. Januar…
*circasiensisch heißt wohl, daß das Rezept circa aus Siena stammt, es ist jedenfalls toskanische Küche
Anfangs war die Rede von zwei GastautorInnen: Zuerst der Beitrag von
Dr. Ingeborg Ströle
Die 1952 in Stuttgart geborene Sibylle Wagner kam Mitte der 80er Jahre von der Objektkunst zu abstrakten Arbeiten mit transparenten Farbschichten. Der Aspekt der Transparenz wird bestimmend für ihr weiteres Werk als Malerin und Performance-Künstlerin. Die Oberfläche verknüpft sich – fürs Auge kaum trennbar mit dem Dahinterliegenden, die traditionellen Kategorien des Vorder- und Hintergrundes werden enggeführt, bedingen und verändern sich gegenseitig. Ihre jüngsten Arbeiten entstanden aus der Arbeit mit belichteten Röntgenfilmen, die Sibylle Wagner mit Acrylmalerei auf Japanpapier hinterlegte. Die grau-blaue, glatte Oberfläche des Röntgenfilmes verändert die Erscheinung des weichen Japanpapiers ebenso, wie umgekehrt die Acrylmalerei die zarten Spuren des auf dem Röntgenfilm durchsichtig gemachten menschlichen Körpers überspielt. Die in Rastatt gezeigten Bilder – von hinten bemaltes und hinterlegtes Plexiglas – beschränken sich weitgehend auf die Farbe Weiß in horizontalen und vertikalen Schichtungen, die Farbe tritt ganz in den Hintergrund, entscheidend wird die Wirkung von Licht und Transparenz.
Frau mit Messer von Sibylle Wagner, Fotoprint & LiSaPlexi, 30 x 100 cm (2006)
In der Rastatter Ausstellung werden erstmals Arbeiten des Ehepaares Lothar Quinte und Sibylle Wagner gemeinsam präsentiert – für die Besucher auch eine Herausforderung, den Spuren gegenseitiger Anregung nachzugehen.
Frau Dr. Ingeborg Ströle war Leiterin der Städtischen Galerie Rastatt und hat diese Zusammenfassung über Sibylle Wagner und ihre Arbeit für das Städtische Monatsprogramm „Rastatt im November“ geschrieben. Die Ausstellung war in der Fruchthalle der Städtischen Galerie vom 20.11.97 bis zum 01.02.98.
Rudij Bergmann
Da sind die Bilder der Stille, die nie stille Bilder waren. In ihrer Unschärfe den Raum erschließend, den Blick freigebend in die selbst zu bestimmende Ferne, nicht durch eine Öffnung, nicht einmal verschämt durch einen Schlitz: er dringt durch einen Schleier ins Weite. Sibylle Wagner, Anfang der Neunziger. Ich zitiere am liebsten mich selbst: „Viele Schichten, etwas schiebt sich vor etwas. Was statisch scheint, ist in Bewegung: Prozeß, Imagination. Die wie geschlossen wirkende Farbfläche hat ihre Öffnung: Rechteckig, ein schwebender Körper, ein Eisblock eventuell“. Da ist nichts zu relativieren, nur vieles hinzuzufügen. Zum Beispiel: wie aus der schwimmend-schwebenden (Farb)Fläche – meinetwegen auch kosmisches Gebrause – so allmählich und unauffällig-unaufdringlich, Gebilde entsteigen, die als Flecken und Punkte, manchesmal wie Einschüsse – natürlich Acryl, Tusche, Gouache, Pigmente – sich drehen und wenden und dann ebenso allmählich zu Skripturalem werden, zu Schriftzeichen an der (Lein)Wand, die auch Japan-Papier sein kann. Abfolge, Rhythmus, Prozeß. Weder in einem Bild, obzwar dort die versteckte Andeutung auf das Mögliche. Noch in der Chronologie. In der schwunghaften Beziehung der Bilder zueinander entsteht die Schrift. Lesbar und unentzifferbar. Zum Verstehen nah und so flüchtig fern. Das ist Lebensgefühl und es sind Fernsehbilder. Der Augenblick auf der Flucht vor seinem Betrachter… mit solchen Bildern versetzt uns Sibylle Wagner in unsere Zeit.
„Malen wie Schreiben“ hat das Gert Reising genannt. Ihm klingt es wie Chinoiserie. Mir eher wie Jahrhunderte. In ihrer Fremdheit uns kaum begreiflich vertraut, die Schrift, Weil: sie kommt von weit her, die Kalligraphie der Unbestimmten, die Zustände ausdrückt, Fakten umkreist. Von weit her heißt (in meiner Interpretation): die staubigen Straßen der Geschichte, die brodelnden Plätze in uns. Historie und Hysterie.
Dann auch fast alttestamentarisch verdichten sie sich, die Schriftzeichen, bevor sie, wie von unsichtbarer Hand, verwischt werden…. und so wird das Geheimnisvolle zum Kriselbild der TV-besessenen Jetzt-Zeit in ihrem Übergang ins Digitale… gestörte Verhältnisse… der Augenblick der Flucht vor seinem Erzeuger… hinter dem Geflimmer, die virtuellen Welten. Mit den traditionellen Mitteln der Malerei, mit den alten Medien ist Sibylle Wagner dem Neuen auf der Spur. Mit Performance und Video versichert sie sich der Malerei. Im Aufgehobenen (Hegel) gibt es keine Trennung. Medial und Skriptural die Röntgenbilder. Keine Selbstbildnisse, fremde Schicksale. Farbe, Schrift, Körper schemenhaft oder wie ein
Aufbrausen. Es schäumt auf wie Begierde, habe ich mir notiert. Der nächste Schritt, auch das ist nicht chronologisch gemeint, und der erste zu den Arbeiten mit Plexiglas, die Röntgenfilme ohne Anatomie.
Quer- und Hochformate. Plexiglas industriell eingefärbt. Die Farbe als Vorgefundenes. Blau. Gelb. Oder so: Dispersionsfarbe auf Hart- wie Rauhfaser; die durchlaufende, die Malfläche überdeckende, farblose Plexiglasscheibe mal innen, mal außen, mit weißem Lack besprüht (oder schwarzem). Milchglasbahnen oben, unten, seitlich. Dazwischen der freie Blick auf das (dispersionsfarbig-hartfaserige) Niemandsland. Was die Röntgenfilmbilder signalisieren, nun ist es manifest. Klinisch. Künstlich. Perfektion. Glätte. Und sonstige Assoziationen. Mehr verloren als vereinzelt Skripturales. Die rhythmisch bis kosmischen Gemälde und Gouachen von einst nun in die (Un)Ordnung der Geometrie verstrickt. Das Bild als Eisbahn romantischer Gefühle. Kalt und melancholisch: Jetzt-Zeit-Bilder von Sibylle Wagner.
Rudij Bergmann, im November 1997, Mannheim
Rudij Bergmann ist Kulturjournalist beim Süddeutschen Rundfunk Mannheim.