Hinkelstein 23 | 26.01.2025: Nachdenken über Wahrnehmung III.

Wahrnehmung III.
Begonnen hatten wir unsere eher soziologischen Überlegungen zur Wahrnehmung der Wirklichkeit – gefiltert durch verschiedene Perspektiven, die wir auch Wahrnehmungsblasen nennen können, vor zwei Wochen: Mit dem heutigen Teil 3 wollen wir dieses Thema vorerst abschliessen; sonst wüchse die Gefahr, dass wir beim gemeinsamen Nachdenken über Bubbles irgendwann eine eigene Bubble bilden…

Bild links: (Plakatmotiv): Alexis Bust Stephens: Homomotus,
FE 26 #4, Acryl, Ölkreide auf Leinwand, 2020, im Besitz des Künstlers; © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Alexis Bust Stephens ist ein Künstler, dessen Werk uns viel über Wirklichkeitswahrnehmung zu erzählen vermag:
Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen | 25.01. – 27.04.2025: | Studioausstellung: »Alexis Bust Stephens – Urban Artist aus Sucy-en-Brie«

Die Medienkünstlerin Hito Steyerl hatte uns gezeigt (Hinkelstein 22), wie das Internet die Entstehung solcher Wahrnehmungsblasen befördert, weil sich gerade hier die Verschwörungstheorien finden, die sich online optimal verbreiten lassen und dann Gruppen von Followern miteinander verbinden – Gruppen, die ein Weltbild teilen und die mit anderen Gruppen/Weltbildern nicht kommunizieren können oder wollen. Als sehr politische Künstlerin verbindet Steyerl intelligent die medienwissenschaftlich untermauerte Theorie der Blasenbildung im Internet mit den Entwicklungen in der globalen und hiesigen Politik.

Aus aktuellem Anlass kommen wir heute ein letztes Mal auf dieses Thema zurück. Im Feuilleton der SZ vom 20.01.25 – Seite 9: „Kulturkampf? Eher ein Kampf der Unkulturen“ beschreibt Joachim Käppner (ohne selbst den Begriff „Blase“ zu verwenden), wie sich die Weltbilder verschiedener sozialer Gruppen so auseinander entwickelt haben, dass keine Kommunikation oder gar Verständigung mehr möglich scheint.

Noch bis in die 80er Jahre hinein war die Welt der Politologen und Soziologen noch einfach: es galt weithin die Klassentheorie: auf der einen Seite die Arbeiterklasse, charakterisiert durch kleinere Einkommen und weniger schöne Wohnviertel, bildeten die Arbeiter eine sich zusammengehörig fühlende Gruppe. Als arbeitende Menschen oft organisiert in mehr oder weniger kämpferischen Gewerkschaften. Diese demonstrierten/streikten gemeinsam gegen die Arbeitgeber, das Kapital, und wählten sozialdemokratisch oder auch mal ganz links.
In den besseren Wohnvierteln (die mit den Villen) lebten die besser verdienenden, die größere Autos fahren – Das bürgerliche Lager; diese wählten konservativ – CDU oder liberal – FDP oder – politisch korrekt – die Grünen (dann längst mit kleinerem E-Auto als Zweitwagen vor dem Haus, den Mercedes-Benziner versteckt in der Garage – da ist er sicher!) . Doch alle konnten miteinander reden, oder gar, wenn nach Wahlen die Mehrheitsverhältnisse es erzwangen [ „Ja mein Gott! was solls?“ ] miteinander koalieren. Heute ist die Welt schwieriger: die Art des Einkommens („Sehrgutverdiener/Erben“ oder „Arbeiter/Sozialhilfeempfänger“ – früher: „Klassen“ haben als Erklärungsmodell längst ausgedient.

Wissenschaftlich betrachtet ist die Situation streng unübersichtlich. Ich möchte gleichwohl versuchen, einen Zwischenstand dieser dynamischen Entwicklung zu formulieren: Anstelle der (früheren Arbeits- und) Lebenswelten (Jürgen Habermas‘ stark modernisierte Variante der Klassentheorie, die für non-marxistische Soziologen dann zur eher deskriptiven Milieutheorie weichgespült wurde) leben wir heute in unserer Mediengesellschaft in Wahrnehmungswelten (Bubbles).

Diskussion oder gar Verständigung sind in der Bubbleworld fast unmöglich. Stattdessen grenzt man sich umso entschiedener ab; so etwa die heute modisch-politiisch-moralisch Korrekten gegenüber der AFD, denn die sind ja eindeutig „allesamt Faschisten – und wenn Du das anders siehst, rede ich kein Wort mehr mit Dir“. In den USA gelten die Demokraten (früher oft als analoge Kraft zur deutschen Sozialdemokratie gesehen,) spätestens seit Bill Clintons Regentschaft vielen als Interessenvertreter des Finanzkapitals; die „poltisch liberale“ Wall-Street in New York ist eine Hochburg der Demokraten. Die von Trump geführte republikanische Partei gilt vielen als rechts, Trump, den viele als Vertreter der Reichen und/oder als Diktator sehen, wird vorwiegend von „den einfachen Leuten“ gewählt, oft gar bewundert.

Led Zeppelins (seltsamer Gedankensprung? ja.) Communication Breakdown ist heute politischer Alltag: Im o.g. SZ-Artikel analysiert Käppner, wie jedes Thema, wie „jeder Lösungsversuch zum Sprengsatz gegen das andere Lager benutzt wird“.
Die letzte Documenta hat erschreckend gezeigt, wie sehr diese politische Entwicklung auch die Kunst tangiert.

So beschrieb ja auch Hito Steyerl von ihren Reise-Erfahrugen in Serbien und Bosnien, dass sie mindestens 5 verschiedene politische Wahrnehmungswelten erleben konnte.

Wir in der Kunst sollten alles dafür tun, die Kommunikationsfähigkeit (ohne die die Kunst nicht leben kann) aufrecht zu erhalten (oder wieder zu erlangen?) – vielleicht hilft uns ja der Poet Ernst Jandl, der so treffend formulierte:

Wel sagt, dass man
Rings und Lechts
nicht verwechsern kann
del rügt.

Frei von Fake-News, frei von Cholesterin und PCB, vogelfrei, glutenfrei, Heidenei, laktosefrei, Hitzefrei, virenfrei, never geistfrei, Spiegelei?, einerlei, und weitestgehend frei von sonstigen Stoffen mit letalen Nebenwirkungen gibt es nun wieder wie jeden Tag

die guten Nachrichten im kunstportal-baden-württemberg:

Neu am 26. Januar 2025: | ZKM Karlsruhe | Do; 13.02.2025; 19 Uhr | Wie Tech-Oligarchen unsere Wahlen beeinflussen: | Auslaufmodell Demokratie?!
Neu am 26. Januar 2025 | Künstler | 21.03. – 07.04.2025 | Sandro Vadim und Jürgen Heinz | Kunstverein Worms | Hereinspaziert – Räume aus Farbe und Stahl
Neu am 26. Januar 2024: | Staatsgalerie Stuttgart | 11.04.2025 – 11.01.2026: | The Sprayed Dear | Katharina Grosse
Neu am 26. Januar 2025: | Newsletter  Hinkelstein: | Sonntag früh frisch auf den Screen: | Hinkelstein 23, | 26.01.2025: Nachdenken über Wahrnehmung III