KunsthalleTübingen | 09.11.2024 – 16.03.2025: | Gert und Uwe Tobias – Das Blaue vom Himmel
I. Missing Parts – Die Ausweitung des Holzschnittes in den Raum
Mit der neuen Werkgruppe missing parts befragen Gert und Uwe Tobias die Technik des Holzschnittes auf radikale und zugleich spielerische Weise. Bei dieser – hier erst mals präsentierten – Werkgruppe werden die Druckplatten selbst zur Bildrealität er hoben. Fragmente des Druckstockes, die bei dem ursprünglichen Vorgang der Druckstock-Herstellung entstehen, kommen jetzt selbst als künstlerisches Material in den Fokus. Diese ›Ränder‹ und Druckstock-›Reste‹, die zunächst stehen bleiben, wenn die eigentliche Form aus der Platte gesägt wird, haben die Gebrüder Tobias über Jahre gesammelt. Entstanden ist ein Fundus an ungebrauchten Formen und
Fragmenten, die in diesem Raum auf unterschiedliche und überraschende Weise ästhetisch produktiv gemacht werden: Als Form gedruckt auf schwarzem Grund ergeben sie im Wortsinn eine ganz eigenständige Bildsprache. Darüber hinaus wird der Druckstock mit all seinen Gebrauchsspuren in der Tradition der konkreten Kunst,
aber auch selbst zur Bildrealität. Einzelne Platten werden zu neuen Formen komponiert, die als Collage an der Wand und als dreidimensionale Assemblage im Raum zu tanzen scheinen. Indem Gert und Uwe Tobias so das Potenzial des Holzschnittes in novativ ausschöpfen, gelingt es ihnen einmal mehr, die Ausdrucksmöglichkeiten die
ser traditionellen Technik ins Skulpturale und Installative zu erweitern.
II. Zeichnungen und andere Medien
Gert und Uwe Tobias arbeiten, parallel zur Technik des Holzschnittes, auch mit verschiedenen anderen Medien. Der Zeichnung kommt bei der Entwicklung ihres Kosmos dabei eine ganz besondere Rolle zu. Sie ist bei den Tobias Brüdern nicht Selbstzweck, sondern wird als Medium zwischen Geist und Hand zum unmittelbaren Ausdruck der künstlerischen Ideen eingesetzt und fungiert damit als primäres Mittel bei der Suche nach der Formfindung.
Darüber hinaus materialisiert sich die individuelle schöpferische Fantasie der beiden Künstler aber auch in anderen Techniken wie dem Aquarell, der Radierung und der Collage. Nicht zuletzt werden die von ihnen entwickelten Motive aber auch mit Hilfe der Schreibmaschine in Punkte, Kommata und Buchstaben übersetzt. Durch Neben-
und Übereinandertippen einzelner Zeichen gelingt es Gert und Uwe Tobias so scheinbar mühelos dem technischen Gerät neue poetische Bilder zu entlocken. Diese werden nicht wie Sprache nacheinander in ihren logischen Bestandteilen aufgenommen und gelesen, sondern vielmehr wie ein Bild unmittelbar visuell und sinnlich erfasst.
III. Gedenke des Lebens! Stillleben á la Gert und Uwe Tobias
Im Jahr 2011 beschäftigten sich Gert und Uwe Tobias – angeregt durch eine Ausstellung im Gemeente Museum in Den Haag – erstmals mit dem Thema des Jagdstilllebens aus dem 17. Jahrhundert. Seitdem ist eine ganze Gruppe von Werken entstanden, die die unterschiedlichsten Ausformungen dieser Malereigattung – wie das klassische Blumenstück, Tischarrangements oder das Küchenstillleben – humorvoll und subversiv in Tobias-Manier aktualisieren. Die in diesem Genre traditionell har monisch zusammengefügte Tier- und Pflanzenwelt scheint in den großformatigen Stillleben von Gert und Uwe Tobias zentrifugale Kräfte zu entwickeln. Die Brüder eig
nen sich das kunstgeschichtliche Genre an, indem sie Vanitassymbole wie erloschene Kerzen, Vasen und in Zersetzung geratene Früchte nicht nur grotesk zitieren, sondern die Stillleben auch mit ihren eigenen Fantasiefiguren bevölkern. Schmetterlinge, Fliegen und andere Mischwesen werden zu Hauptdarstellern und entwickeln ein Eigenleben. Nicht zuletzt wirkt jedoch auch bei den Gebrüdern Tobias die allegorische Memento-mori-Bedeutung der Gattung nach. Morbide Motive wie der Totenkopf erinnern metaphorisch an die irdische Vergänglichkeit allen Seins.
IV. Porträts
»Die Fantasie funktioniert wie ein Puzzle, sie schafft Unbekanntes auf der Grundlage von Bekanntem« (Cynthia Fleury). Dementsprechend haben die Gebrüder Tobias im Verlauf ihres Werkes Porträts und Fantasiefiguren geschaffen, die ganz unterschiedliche Traditionsstränge zu Neuem kombinieren. War ihr Figurenrepertoire zu Beginn stärker narrativ und von der osteuropäischen Folklore geprägt, wurde es in den letzten Jahren um klassische kunstgeschichtliche Bildtypen erweitert. In der vorliegen den Porträtreihe artikuliert sich ein ›wildes Denken‹, das von ganz unterschiedlichen Motiven verschiedenster Herkunftsländer inspiriert ist. So lassen sich Pietà-Motive oder volkskulturelle Kopfbedeckungen ausmachen, während der monochrom silberfarbene Hintergrund Assoziationen zu östlicher Ikonenmalerei weckt. Gleichwohl sind die überlieferten Bildtraditionen für Gert und Uwe Tobis nur Anlass, um die Figur auf abstrakte Elemente und Formen zurückzuführen und ihre Ahnengalerie so auf spielerische Weise in unendlichen Metamorphosen zu erweitern.
V. Wolken- und Himmelsbilder
In ihrer neuesten Werkreihe richten Gert und Uwe Tobias den Blick in den Himmel. Wolken- und Himmelsdarstellungen haben in der Kunstgeschichte eine lange Tradition. So verweisen Wolken auf Transzendentes und wurden über Jahrhunderte dazu benutzt, um das Göttliche erscheinen zu lassen. Wolken, die zwischen Erde und Unendlichkeit schweben, werden metaphorisch als Stoff verstanden, aus dem die Träume sind, und stehen bis heute auch für die Sphäre der Fantasie und Poesie.
Traumartig erscheinen auch die neuesten Wolken- und Himmelsansichten von Gert und Uwe Tobias. Mit ihnen erweitern sie ihr surreales Spiel in kosmische Gefilde. Wie im Traum lassen sie Fragmente ihres skurrilen Repertoires am Firmament erscheinen; Disparates zusammenstoßen; Unbekanntes aus Bekanntem entstehen: So
mutiert folkloristischer Zierrat zum fantastischen Flügelwesen und ein Stuhl erscheint von einem Moment zum anderen mit Augen beseelt. Auf charakteristische Weise eigenen sich die Künstler die ›Sprache des Himmels‹ an. Solchermaßen popularisiert, erzählt sie von nichts anderem als dem unbegrenzten Reichtum individueller Imagination.
Gert und Uwe Tobias
Ohne Titel, 2023
© Gert und Uwe Tobias /
VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Foto: Alistair Overbruck
Bild 1 Overbruck