Im Hier und Jetzt der Bühne – Susanne Kaufmann über Kalin Lindena

Künstlerporträts im kunstportal-bw | Dezember 2024
Doppel-Porträt über Kalin Lindena:

Jürgen Linde: Alles immer – das Gewicht der Linie (auch zur aktuellen Ausstellung der SGK):

Im Hier und Jetzt der Bühne – „Raumbehexte Wesen“ im Werk von Kalin Lindena und Oskar Schlemmer

Bild lrechts: Oskar Schlemmer: Zwei Schwingende in Gegenbewegung, 1931, Feder in Schwarz auf geglättetem leicht verbräunten Schreibpapier, 28,5 x 22 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung © Staatsgalerie Stuttgart

Es ist eine besondere Koinzidenz, die Ausstellung von Kalin Lindena im Kunstverein Reutlingen parallel zu einer Retrospektive der Werke Oskar Schlemmers sehen zu können. Denn erstmals seit 40 Jahren wird das Werk des Bauhaus-Meisters in der Staatsgalerie Stuttgart wieder in einer umfassenden Ausstellung gezeigt. Und auch wenn es fast mutig erscheint, sich dem Werk einer zeitgenössischen Künstlerin im historischen Stilvergleich zu nähern, so ist es in diesem Fall doch essentiell, verfährt Kalin Lindena mit ihren Zitaten des Bauhaus-Künstlers nicht unscheinbar oder subtil, sondern bewusst und unübersehbar.

Die komplexen installativen Arbeiten von Kalin Lindena haben sich über die vergangenen Jahre eine Kontinuität bewahrt, und sich dennoch intensiv weiterentwickelt. So geht ihre Installation im Kunstverein Reutlingen zurück auf „Geleise, Du Schatten“, eine raumgreifende Arbeit, die Lindena 2011 für die Kunststiftung Erich Hauser in Rottweil erdacht hat. Ihre hier bereits wiederkehrenden „Statisten“ – zuvor waren diese auch in der Ausstellung „Bleib wie Du willst“ 2010 in der Galerie Meyer Riegger zu finden – bewegen sich in abgewandelter Erscheinungsform durch ihre Installationen. Die Statisten, aus Metall und anderen Materialien konstruierte Figurinen, tragen in „Geleise, Du Schatten“ Kostüme aus gekleistertem, farbigem Seidenpapier, die ihnen menschliche Züge verleihen. Als Stellvertreter der Bewegung sind sie auf den Bodenlinien im Raum angeordnet, sie scheinen die an Laufbahnmarkierungen auf Sportplätzen erinnernden Kurven und Geraden für ihr vorbestimmtes Fortkommen zu verwenden. So eindeutig es ist, dass die Statisten aus schematisierten Zitaten der menschlichen Physiognomie konstruiert sind, so schwer zuzuordnen verbleibt ihre Identität – sie sind überindividuell in ihren geometrischen Stilisierungen des Kopfes, der Hände, ihrer Körper.

In der Formcharakteristik zitieren Lindenas Statisten Bühnengeschöpfe Oskar Schlemmers, die aus seinen Gemälden, Zeichnungen und Plastiken erwachsen sind und in seinen „Bauhaus-Tänzen“ variierend mit oder ohne additive Materialien in Bewegung auftreten. Schlemmers Oeuvre – angesiedelt zwischen Malerei, Zeichnung, Plastik, Wandgestaltung und der praktischen und theoretischen Beschäftigung mit der Bühne, ist in den vergangenen Jahrzehnten, obwohl es kaum ausgestellt werden konnte, im Bewusstsein präsent geblieben. Nicht nur in seiner zeithistorischen Relevanz neben Ikonen der Moderne wie Wassily Kandinsky und Paul Klee, sondern vor allem im Gedächtnis der zeitgenössischen Rezeption bleib Schlemmer präsent, in seiner Bedeutung als „Künstler-Künstler“. Schlemmer, der für seine künstlerische Programmatik den „Mensch als das Maß aller Dinge“ definierte, hatte seine „Bauhaus-Tänze“ ab Mitte der 1920er Jahre als Leiter der Bühnenwerkstatt des Bauhauses in Dessau erarbeitet. Bereits 1923 zeigte er sich selbst bekleidet mit einem für seinen Figurenkanon typischen, formplastischen Tänzerkostüm, das auch im Anschluss als Motiv durch verschiedene Medien hindurch (u.a. auf einem Bühnenvorhang und auf späten Wandbildern) wiederkehren würde. Im Gemälde „Der Tänzer“ (Abb.1), das Schlemmer als stilisiertes Selbstbildnis programmatisch auf der ersten Bauhaus-Ausstellung zeigte, formen sich – wie auch bei den Statisten von Lindena – die Köpfe und Hände zu Kreisen, die Füße zu langgezogenen Dreiecken; die Körperlichkeit wird gleichsam betont und letztlich doch verschleiert, individuelle physiognomische Züge scheinen wie durch Wattierung überdeckt und werden in die Allgemeingültigkeit übertragen. Schlemmer erklärt den Transformationsprozess der Figurinen in die performative Bewegung, indem er beschreibt, wie die „menschliche Gestalt, losgelöst aus der Masse und in die Sonderwelt der Bühne gestellt, vom Nimbus des Magischen umwittert, ein sozusagen raumbehextes Wesen“ wird. Auch Lindenas Statisten nehmen in ihrer bildhaften Stellvertreterrolle eine wichtige werkimmanente Rolle ein: die Statisten sind in ihrer Erscheinung Sinnbild für die Bewegung im Raum, eben auch „raumbehexte Wesen“ und erheben durch ihre Anwesenheit die Installation zu einer theatralen Inszenierung. Lindena führt diese Vorstellung im Kopf des Betrachters noch einen Schritt weiter, wenn sie ihre Statisten in der Installation „Geleise, Du Schatten“ in einem performativen „Gehtanz“ durch tatsächliche Tänzer ersetzt und die Vision Realität werden lässt.

Bild links: Oskar Schlemmer: Figurine zum „Triadischen Ballett“, „Der Abstrakte“, 1922, Formteile (kaschiert), Stoff (wattiert), Holz, 202 x 126 x 65 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Leihgabe der Freunde der Staatsgalerie Stuttgart © Staatsgalerie Stuttgart

In einer deutlich weiterentwickelten Form treten die Statisten auch in Kalin Lindenas Installation in Reutlingen auf. Die vorwiegend aus Metall konstruierten Figurinen gruppieren sich innerhalb ihres Wirkungsraums, der durch unterschiedliche an den Wänden angebrachte Stoffbehänge definiert wird. In verschiedenen Farben, Formen und Lagen verweisen die Gewebebahnen auf Elemente eines Bühnensettings: zulaufende Lichtkegel, Scheinwerferkreise, hell-dunkel kontrastierende Architekturelemente, aufgeklebte und gesprühte Hände, die sinnbildlich für das Applaudieren des Publikums stehen. Zwischen den Andeutungen von künstlichem Licht fällt natürliches durch die teilweise transparenten, teilweise auch blickdichten Vorhangstrukturen. Befindet sich der Betrachter hier vor oder hinter dem Vorhang? Wird eine Vorstellung anfangen oder hat diese bereits stattgefunden? Fragen, mit denen sich der Betrachter durch die Installation bewegt, die aber unbeantwortet bleiben und auf die im Raum anwesenden Statisten verweisen, die zur Projektionsfläche der Gedanken werden.

Bemerkenswert bei näherem Hinsehen ist auch die formale Weiterentwicklung der Statisten, denn während die Figurine „Der Atlas“ von 2012 mit ihrem plastischen Betonrumpf, den gelben Handschuhen und der in ihnen verborgenen Weltkugel als symbolisches Relikt aus der Vergangenheit identifiziert werden kann, erwachsen die neu erarbeiteten Figurinen aus einer linearen Struktur. Sie erhalten ihre Form aus reinen Liniengesten, die skizzenhaft eine dynamische Raumbewegung beschreiben und selbst kaum mehr als plastische Gebilde wahrgenommen werden. Ihre Plastizität entsteht erst durch den mit der Linie definierten und eingenommenen Raum. Verstärkt durch die Umgebung der theatralen Raumsituation entwickeln die Figurinen eine starke Eigenbewegung; ihre Biegungen, Zickzack-Linien und Schrägen werden für den Betrachter als physische Choreographie erkennbar.

Zurückzuführen sind die linearen Metallplastiken Lindenas auf ihr graphisches Werk, ihre Aquarellskizzen und Bleistiftzeichnungen. Hier in der Zweidimensionalität des Papiers sind die Grundideen der Statisten bereits vorgedacht, bevor sie als Linienballett auch den Ausstellungsraum einnehmen. Im geistigen Zusammenhang stehend erscheinen Schlemmers Federzeichnungen aus den 1930er Jahren (Abb. 2,3), die auf Linienformationen reduzierte schwarze Federstriche vor unbearbeitetem Hintergrund im Raum zu menschlichen Körpern in dynamischer Bewegung formen. Schlemmer und Lindena geben innerhalb des graphischen Mediums in konzentrierter und intensiver Formreduktion ihre künstlerischen Grundideen wieder, die in ihrer Umsetzung in der Dreidimensionalität – der plastischen Form oder der getanzten Bewegung – ihre Ausformulierung erlangen.

Mit der formalen und inhaltlichen Weiterführung der Statisten erreicht Kalin Lindena eine neue Stufe der nahezu gänzlich vom Gegenstand befreiten räumlichen Form. Es gelingt ihr allein durch die Linie, die Dimensionalität der Bewegung im Raum zu konstruieren und diese im Kopf des Betrachters visuell werden zu lassen. In diesem Interesse an der Auflösung von körperlicher Plastizität und ihrer Übertragung in die räumliche Bewegung, beschreiten Lindenas Statisten einen kongruenten Weg mit den heute weltbekannten Figurinen Oskar Schlemmers (Abb. 4, 5). Der Künstler hatte diese als Kostüme für die Tänzer seines „Triadischen Balletts“ entworfen, das er im September 1922 im Württembergischen Landestheater in Stuttgart uraufführen ließ. Schlemmer selbst bezeichnete seine Umsetzung des streng choreographierten Balletts als „die erste konsequente Demonstration des raumplastischen Kostüms“ und erhoffte auf diese Weise „neue tänzerische Ausdrucksformen“ und eine „Entmaterialisierung der Körper“ zu erlangen. Zweifelsohne zählt das „Triadische Ballett“ in seiner Experimentalität zu den zukunftsweisenden künstlerischen Ideen des 20. Jahrhunderts und beeinflusste gemeinsam mit den „Bauhaus-Tänzen“ nachhaltig die Entwicklung der Performance als Kunstform. Fast einhundert Jahre später zeigt sich, nicht nur in den derzeitigen Wiederaufführungen des „Triadischen Balletts“, sondern insbesondere an den zu Grunde liegenden Fragestellungen, wie zukunftsweisend und aktuell Schlemmers immer wieder neu gedachte Perspektive auf den menschlichen Körper in seiner Bewegung im Raum geblieben ist.

Für das künstlerische Werk Kalin Lindenas bieten Oskar Schlemmers „raumbehexte Wesen“ neben vielen anderen der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts begründeten Konzepte eine Reibungsfläche, die sie in ihren Arbeiten in ganz eigener Weise zu nutzen und kombinieren vermag. Ganz selbstverständlich trägt sie ihre Fragestellungen dabei durch die Medien hindurch und kombiniert Inspirationen aus der Kunstgeschichte, der Literatur, der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, mit Einflüssen aus ihrer Zeit als DJane und Graffitisprayerin und findet dabei immer wieder neue Denkansätze und Ausformulierungen. In ihrer Installation in Reutlingen gelingt es ihr auf besondere Weise ein Spannungsfeld aufzubauen, das vor allem den Rezipienten auf sich selbst und seine Gedanken zurückwirft – denn hier lässt Kalin Lindena das eigentliche Theater entstehen: im Kopf des Betrachters.

Susanne M.I. Kaufmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Staatsgalerie Stuttgart