if walls could tell

Mischa Kuball | 22.08. – 12.09.2024 | if walls could tell

Eröffnung: Do, 22.08., 19 Uhr: | Mischa Kuballs Projekt if walls could tell startet in Sarajevo

Why the hell does everybody want to succeed?
I’d like to meet somebody who wanted to fail. That’s the only sublime thing.”
—John Dos Passos, Manhattan Transfer, 1925

In Vorausschau auf die diesjährige Grundsteinlegung für den Neubau des Ars Aevi Museums für Zeitgenössische Kunst am 19. August 2024 lädt der renommierte Düsseldorfer Konzeptkünstler Mischa Kuball mit seiner Kunstaktion im öffentlichen Raum „if walls could tell“ die Bürgerinnen und Bürger von Sarajevo Stadt vom 22. August bis Ende Oktober ein, für die Museumsausstellung drei weiße Wände als Referenz für die städtische Debatte um die kulturpolitische Bedeutung des künftigen Museumsquartiers und die Teilhabe am kulturellen Leben von Sarajevo zu gestalten.

Das transnationale Projekt if walls could tell des Künstlers Mischa Kuball hinterfragt Kunstinstitutionen im Hinblick auf ihre Durchlässigkeit zu breiteren sozialen Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft. Über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen werden in verschiedenen Städten Südosteuropas drei symbolische Museumswände im öffentlichen Raum installiert, wo sie als zugängliche und temporäre Bühne für die Einwohner dienen. Wie ein Filter werden diese Wände alle „Spuren“ kultureller und urbaner Ausdrucksformen inmitten des städtischen Lebens der Menschen auffangen, weg von den kulturellen Institutionen, auf die sie sich beziehen. Einmal von der Umwelt und den Menschen geprägt, kehrt die Bühne dann in ihren institutionellen Kontext zurück, um die hinterlassenen Spuren zu sichern oder weiter zu beschriften.

Im Jahr 1925 veröffentlichte John Dos Passos den Prototyp des modernen Großstadtromans: In „Manhattan Transfer“ beschreibt der amerikanische Schriftsteller das urbane Leben in einer der am schnellsten wachsenden Metropolen der Welt: New York. Dorthin zog es zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr Menschen, die von persönlichem Erfolg und Wohlstand träumten. Um den enormen Zuzug von Menschen aus dem In- und Ausland zu bewältigen, verfolgten Stadtplaner und Architekten einen ebenso radikalen wie innovativen Plan: Die Metropole sollte in die Höhe wachsen – genau wie das ökologische Wachstum. Schnell dominierten Wolkenkratzer aus Stahl, Beton und Glas die Skyline der Weltstadt auf einem gerasterten Grundriss. Dieses urbane Planungsprinzip wurde bald zum Symbol der städtischen Gesellschaft, in der Arm und Reich in krassem Gegensatz zueinander standen. Die modernen Denkmäler einer kleinen Elite stellten die Armut und Verzweiflung breiter Bevölkerungsschichten buchstäblich in den Schatten.

Dos Passos‘ Roman stellt das zeitgenössische Leben auf den Prüfstand: sozialer Aufstieg versus Enttäuschung angesichts der leeren Versprechen von Erfolg und Konsum. Das New York der Jahrhundertwende entschied oft per Los, wen es retten oder enteignen wollte. Für den Leser bedeutet diese Verhandlung eine echte Bewährungsprobe. Sie wird durch eine ungewohnte Erzähltechnik noch drastischer gemacht. Wie in einem Dokumentarfilm drängt Dos Passos den Zuschauer in die Lebenswirklichkeit seiner Figuren. Er interpretiert sie nicht selbst. Vielmehr überlässt er die Schlussfolgerungen der Empathie der Rezipienten: Der Autor formt „Angst“ oder „Verzweiflung“, die Leser fühlen und benennen.

Ein weiteres „kinematografisches Erzählelement“ in „Manhattan Transfer“ ist die Verwendung des sogenannten „Kameraauges“. Hier wird die Perspektive des Lesers durch den Erzähler so gesteuert, dass sie einem „Kameraauge“ ähnelt. Dos Passos erreicht diese „Einstellung“ durch bloße Andeutungen im Text. Sie werden vom Leser als zufällig wahrgenommen und können dann zu einer neuen Geschichte zusammengesetzt werden. Durch diese Strategie gibt der Erzähler seine Führungsposition auf. Er überbrückt die Kluft zwischen der „tatsächlichen“ Realität und der Romanwirklichkeit.

Um diesen Effekt zu verstärken, verwendet Dos Passos in seiner Erzählung ausschließlich authentisches Nachrichtenmaterial. Pressemitteilungen spielen dabei eine besonders wichtige Rolle: Sie tauchen auf, sind für kurze Zeit wichtig und versinken dann so schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit, wie sie gekommen sind. Diese Form der Kurznachricht dient Dos Passos als Metapher für die Schnelllebigkeit der Begegnungen und die Anonymität der Menschen in der Großstadt.

Mit der Geschichte von Dos Passos im Hintergrund konzentriert sich der analoge museum_transfer – der transitorische, fast dystopische Ortswechsel mit seinen vielen Einschreibungen – auf die Spuren, die an den Wänden hinterlassen werden, die als temporärer Raum für den offenen und grenzenlosen Ausdruck der Bürger in einem partizipatorischen Kunstprojekt im öffentlichen Raum gesehen werden. if walls could tell stellt aktuelle gesellschaftliche Fragen: Kann die Zivilgesellschaft ohne Museen leben, und wird dadurch das kulturelle Versprechen an künftige Generationen aufgelöst oder gebrochen? Wie sehen die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Museen, Bürgerinnen und Bürgern, Künstlerinnen und Künstlern und Kuratorinnen und Kuratoren aus?

 Als Katalysator in diesem Kontext öffnet Mischa Kuball den Raum für alle Bürgerinnen und Bürger, die ihrerseits zu direkten Produzenten von Inhalten, Teilnehmern und Mitautoren bei der Produktion eines kollaborativen Kunstwerks werden. Sie werden somit als politische Subjekte betrachtet, die sich alle verfügbaren Instrumente aneignen können sollten, die sie zu aktiven Nutzern und nicht zu passiven Konsumenten machen, was die Frage aufwirft: Was passiert, wenn Bürger, potenzielles Museumspublikum und Künstler „freie Meinungsäußerung“ im öffentlichen Raum erhalten, was für die museale Ausstellungspolitik und -praxis unüblich ist?

Ein wichtiger Aspekt des Projekts ist die Organisation einer öffentlichen Debatte mit Künstlern, Kunsthistorikern, Theoretikern, Kuratoren und anderen, sobald die Wände wieder im Museum oder in der Galerie aufgestellt sind. Die Diskussion wird sich auf die zuvor beobachteten sozialen Fragen und Probleme in den jeweiligen lokalen Kontexten stützen und durch die auf den Wänden hinterlassenen Interventionen, Aussagen und Abdrücke inspiriert werden. Die kontextspezifischen diskursiven Programme werden gemeinsam mit Partnerinstitutionen und mit Referenten entwickelt, die mit den lokalen soziopolitischen und künstlerischen Kontexten gut vertraut sind.

 „Eine der wichtigsten Fragen, mit denen sich globale und regionale Museen im 21. Jahrhundert auseinandersetzen müssen, ist die Entwicklung neuer Modelle für die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit. Das kürzlich von dem Kunsttheoretiker Stephen Wright geprägte Konzept des Museums 3.0 wird verwendet, um ein völlig neues Modell zu definieren und auszuarbeiten, das die Funktionsweise einer Institution in direkter Beziehung zu den lokalen Gemeinschaften konzeptualisiert. Dieses Modell basiert auf Projekten, bei denen die Öffentlichkeit zum Akteur wird, der die Inhalte und institutionellen Programme produziert. Das Konzept Museum 3.0 steht für die neue Rolle der Museen und anderer Kunstinstitutionen in der Gesellschaft, die auf der Analyse des Konzepts der Nützlichkeit beruht. Es wird von der Nutzerschaft angetrieben und nicht von der Expertenkultur, die sich mit der Öffentlichkeit auseinandersetzt. Die Nutzerschaft wird als eine neue Kategorie politischer Subjektivität wahrgenommen, die auf nutzergenerierten Inhalten basiert. Damit sollen die Bürger als politische Subjekte in der Lage sein, sich verfügbare politische und wirtschaftliche Instrumente anzueignen, die sie zu aktiven Nutzern und nicht zu passiven Konsumenten machen. In diesem Zusammenhang eröffnet das Projekt von Mischa Kuball allen potentiellen Nutzern von Kunstprogrammen den Raum, zu direkten und unmittelbaren Produzenten der Inhalte zu werden. Damit sollen sich die Bürger als politische Subjekte verfügbare politische und wirtschaftliche Instrumente aneignen können, die sie zu aktiven Nutzern und nicht zu passiven Konsumenten machen. In diesem Zusammenhang eröffnet das Projekt von Mischa Kuball allen potenziellen Nutzern von Kunstprogrammen den Raum, zu direkten und unmittelbaren Produzenten der Inhalte zu werden.
Vor allem im spezifischen Kontext der Länder, die nach der Auflösung Jugoslawiens entstanden sind, und anderer postsozialistischer Länder und ihrer Kultureinrichtungen stellen sich folgende Fragen: Wie geht man mit dem gemeinsamen Erbe des Sozialismus um, wie baut man in den einzelnen lokalen Kontexten und ihren Gemeinschaften besondere Identitäten auf, und wie entwickelt man enge Netze der Zusammenarbeit im so genannten postjugoslawischen oder weiter gefassten südosteuropäischen Kunstraum. Jede der Kunstinstitutionen in Ländern wie Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina, Serbien oder Rumänien hat spezifische Probleme, die von der grundlegenden Infrastruktur bis hin zu finanziellen und anderen grundlegenden Fragen reichen. Noch wichtiger ist jedoch die in museologischen Kreisen häufig diskutierte Frage, wie jedes Museum oder jede Galerie seine/ihre Identität und Rolle in der Gesellschaft neu definieren und für seine/ihre Integrität kämpfen kann, um das Konzept der Zeitgenossenschaft in der aktuellen gesellschaftlichen Situation neu zu interpretieren. Der ständige politische Druck der „Ästradierung der Institutionen“, die gezwungen sind, das neoliberale Modell der Produktion von Spektakelkultur zu reproduzieren, darf nicht vernachlässigt werden. In diesem Zusammenhang berührt das Projekt von Mischa Kuball genau diese wunden Punkte in den jeweiligen Ländern und Gesellschaften und eröffnet die Debatte im öffentlichen Raum über die Rolle kultureller Institutionen in der Gesellschaft, ihre Kommunikation mit der Öffentlichkeit und sogar mit denjenigen, die keine Museumsbesucher sind, und hegt somit den künstlerischen Ansatz der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Prozesse und deren Einfluss auf die kulturelle Sphäre und die Museen und ihr Publikum im Besonderen.“

– Dr. Zoran Erić, freier Kurator in Belgrad, ist seit Beginn des Projekts an der Idee beteiligt und hat einen Großteil der Vorgespräche geführt.

if walls could tell wird im öffentlichen Raum in der Nähe des künftigen, von Renzo Piano entworfenen Ars Aevi Museums für zeitgenössische Kunst in Sarajevo eröffnet.

Die internationale Sammlung zeitgenössischer Kunst Ars Aevi wurde 1993 als Akt der Solidarität der internationalen Kunstszene mit der Stadt Sarajevo gegründet, die während der (anti-) jugoslawischen Kriege der 1990er Jahre fast vier Jahre lang belagert und zerstört wurde. Sie zählt zu den bedeutendsten und umfangreichsten Sammlungen zeitgenössischer Kunst  in der gesamten Balkanregion und ist bis heute provisorisch im Rathaus Vijećnica der Stadt Sarajevo untergebracht. Der italienische Stararchitekt Renzo Piano entwarf bereits 1995 einen Museumsbau für die Ars Aevi Sammlung, der angrenzend an das Historische Museum Bosnien und Herzegowina und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Nationalmuseum Bosnien und Herzegowina als Herzstück eines neuen Museumsquartiers die Vergangenheit und Zukunft verbinden soll.
30 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges wurde 2023 mit Unterstützung von UNESCO, der italienischen Botschaft Sarajevo, der Stadt und des Kantons Sarajevo, der Gemeinde Novo Sarajevo sowie mit Fördermitteln der Europäischen Union und Spenden privater Geldgeber das weiterentwickelte Museumsprojekt vorgestellt, dessen Baubeginn für dieses Jahr geplant ist.

Aufgrund der Besonderheit der Ars Aevi Kunstsammlung, die derzeit „ohne feste Museumswände“ ist, wird die Podiumsdiskussion am 12. September 2024 am Ort der öffentlichen Installation stattfinden und sich mit den Plänen für ein Museumsviertel in Sarajevo befassen. Mischa Kuball wird mit der Leiterin des Ars Aevi Museums Senka Ibrišimbegović und namhaften Vertreter*innen der lokalen Kultur- und Kunstszene darüber sprechen, welche Rolle die drei Museen in der Stadt und Gesellschaft haben und wie sich das Ergebnis dieses interaktiven Kunstprojekts kuratorisch in das Konzept der künftigen Aers Aevi Museumsausstellung einfügen lässt, wo es nach dem Ende der Kunstaktion einen dauerhaften Platz finden wird.

Der Prozess wird in allen Partnerstädten wiederholt, beginnend am 27. August 2024 im Nationalmuseum des rumänischen Bauern in Bukarest, gefolgt von Skopje, Kraljevica, Bihać, Čačak, Ljubljana, Chișinău und Cetinje im Jahr 2025. In jeder der Partnerstädte werden die Wände nach ihrer Installation im öffentlichen Raum in das Museum oder die Galerie zurückkehren, wo Podiumsdiskussionen stattfinden werden, um die Auswirkungen der partizipativen Kunst im öffentlichen Raum in ihrem spezifischen Kontext zu thematisieren. Das Projekt wird im WELTKUNSTZIMMER in Düsseldorf enden, wo die Abschlussdiskussion mit allen Partnern stattfinden wird.