Aus dem Vollen schöpfen – über Julia Federspiel

Wenige Tage nach der Eröffnung ihrer Ausstellung “Dämmerung“ (29.06. – 21.07.2024) in der Karlsruhe GEDOK (Hier viele Foto-Impressionen der Vernissage) hatte ich Gelegenheit, die Künstlerin Julia Federspiel in ihrem Atelier im Karlsruher Kreativpark zu besuchen.

Dämmerung I, 2020 | Material: Holz, Epoxy, PLA, PMMA, Polymer Clay, Wasserfarbe, Acryl- und Epoxidfarbe
Maße:133 x 46 x 66 cm (H x B x T)

Dämmerung I, 2020 | heftig berührt, irritiert und entsprechend sofort neugierig läßt mich dieses – im Katalog der Künstlerin erste Bild – zuerst einmal etwas Abstand nehmen, um genauer zu schauen, um, wenn möglich, zu verstehen.

Bild links: die Künstlerin bei ihrer Vernissage i der GEDOK Karlsruhe;
© Foto: Anna Marie Letsch

In unserer bewährten Methode wollen wir dabei streng intuitiv vorgehen; erneut versuchen wir es kriminalistisch: Also,
was haben wir?
Der Katalogtext zu “Dämmerung I“, der wohl auch alles und mehr zusammen zu fassen versucht und dadurch meine anfängliche Verwirrung zuerst eher noch steigert, gibt Impulse, die uns weiterhelfen können:
Dämmerung I ist ein Beispiel für die Verschmelzung diverser Techniken und den Drift zwischen der Realität und der “Virtualität“. Das Werk verwirklicht die Abweichung täglicher Routinen, die durch unsichtbare Wirkung auseinanderfallen. Surreal erscheinende Physik wird impliziert, die Disruption des Versuchs der Koexistenz in beiden Welten unterstreichend, die Auswirkungen und Reaktionen der menschlich anmutenden figürlichen Modelle zeigend – von Assimilation über Untergang bis hin zur Flucht und Abseits, in keinem Falle vor der teils noch bevorstehenden Transformation unbeeinflusst. (GEDOK Karlsruhe)

Es geht also um eine teilweise noch bevorstehende Transformation. Da wir unseren neuen Fall ja nicht ganz unvorbereitet angehen, haben wir gleich einen Anfangsverdacht: vielleicht geht es um die Transformation von unserer noch weitgehend analogen zur (noch immer gern als „neu“ bezeichneten) digitalen/virtuellen Welt?
Doch Vorsicht: vom Anfangsverdacht ist es nicht weit zu einem Vorurteil, das dann verhindern könnte, dass wir andere Sachverhalte/Möglichkeiten nicht (mehr angemessen) wahrnehmen.

Überwältigt von den vielen Eindrücken und Assoziationen versuche ich, mich zu orientieren. Zuerst denke ich an unser letztes Künstlerporträt über Wolfgang Neumann, der als Künstler – scheinbar leichten Schrittes – unsere ganze Lebens – und damit unsere gesamte Medien-Welt in den Blick nimmt. Finden wir hier eine Verbindung?
Die mir nicht leicht gefallene Aufgabe, im Text über Wolfgang Neumann einen Weg, eine Orientierung zu finden, erscheint mir nun – angesichts der künstlerischen Arbeit der in in Litauen geborenen und und in Rastatt aufgewachsenen jungen Künstlerin Julia Federspiel noch einmal gewachsen zu sein.

Bild links: Dämmerung IX. Soloausstellung in der GEDOK Karlsruhe; © Foto: Anna Marie Letsch

Doch der Text, den die GEDOK Karlsruhe, deren aktuelle Ausstellung ja der unmittelbare Anlass oder Ausgangspunkt zu unserer Ermittlung bildet, zur Ausstellung liefert, scheint unsere erste Annahme zu unterstützten:

Julia Federspiel präsentiert mit „Dämmerung“ eine faszinierende Verschmelzung von Skulptur und Virtual Reality. Ihre Soloausstellung vereint Skulpturen und 3D-Arbeiten, die durch eine innovative VR-Installation ergänzt werden.
Federspiel, Meisterschülerin von Stephan Balkenhol, machte sich durch ihre Fähigkeit, traditionelle Bildhauerei mit modernsten Techniken zu verbinden, einen Namen. Ihre Werke, die oft aus einer Kombination von Materialien wie Holz, Stahl und fortschrittlichen Kunststoffen bestehen, erforschen die Grenzen zwischen physischer und digitaler Realität und setzen sich kritisch mit dem technologischen Fortschritt im Kontext eines gesellschaftlichen Gefüges sowie des Menschseins auseinander.
(Pressetext der GEDOK Karlsruhe)


1. Julia F. präsentiert dreidimensionale Objekte; manche tatsächlich sehr figurativ, als Plastiken, oft in Verbindung mit altbekannten Materialien : Holz, Metall, Stoffe; das wichtigste Material aber ist offenbar ein geheimnisvoll erscheinender Kunststoff: die Künstlerin erklärt uns, dass es sich dabei um PET und PLA handelt, die heute üblichen Kunststoffe, aus denen ein 3D-Drucker dann die Objekte druckt. Bis dahin erscheint es also treffend, Julia Federspiel als Bildhauerin zu bezeichnen.
Also nur „Alter Wein in neuen Schläuchen?“

2. Die Künstlerin hat Freie Bildhauerei studiert, an der Kunstakademie Karlsruhe, wo sie das Studium abschloss als Meisterschülerin bei Stephan Balkenhol, den wir besten Gewissens als Bildhauer einordnen dürfen. Und ganz ähnlich, wie traditionelle Bildhauer wie in Karlsruhe etwa auch Franz Bernhard in ihrer Arbeit ja immer den Menschen in den Mittelpunkt rück(t)en, bestätigt uns Julia Federspiel, dass dies in ihrer Arbeit nicht nicht wesentlich anders ist: auch wenn ihre figurativen Arbeiten ein breites Spektrum an Assoziationen wecken – sagen wir von Hieronymus Bosch bis zur Filmfigur Alien – beziehen sie sich letztlich auf den Menschen.

Wir haben durchaus also zwei starke Indizien, zwei klare Verdachtsmomente, dafür dass Julia Federspiel tatsächlich Bildhauerin ist. Aber nein, keineswegs sind wir überzeugt davon, dass wir hier „klassische Bildhauerei“ sehen – lediglich erweitert durch neue Techniken, die eben das Ausdrucksspektrum erweitern.

Die Technik, so erscheint es mir, ist nur ein,- zweifellos wichtiger, aber nicht alleine entscheidender Faktor, der diese neuen Werke charakterisiert: Auch wenn wir weiterhin den Menschen als Mittelpunkt der künstlerischen Betrachtung erleben, so ist es doch die veränderte Weltsicht, die eine junge Künstlergeneration, aufgewachsen in einer schon digitalen Lebenswelt, hier entwickelt:

Aufgewachsen in der TechnologieRegion Karlsruhe zählt die junge Künstlerin unstrittig zur Generation der digital Natives. Aufgewachsen zwar nicht im, aber eben doch mit dem längst omnipräsenten Internet zählt Julia Federspiel zweifellos zur Generation der Digital Natives. Die digitalen Werkzeuge, die frühere Bildhauer noch nicht kannten, sind schlicht Teil ihres Alltags.

Zwangsläufig entsteht hier eine neue Perspektive auf die auch uns Alten unbegrenzt anmutende Masse an visuellen Eindrücken und Informationen der heutigen Medienwelt: Google und die KI (GPT etc.) liefern uns frei haus auf Mausklick scheinbar alles, was es bislang gab und alles, was es gibt.
Inzwischen befassen sich ja einige große Kunsthäuser damit, ganz neue, zukunftweisende – mit den Mitteln der KI orginär (?) entstandenen Ausstellungen und Werke zu präsentieren (wie etwa die Mannheimer Kunsthalle mit Botto @ Cryptogallery #One), um damit, so erscheint es mir, vor allem ihre eigne Offenheit für Neues, zu zelebrieren.

In Julia Federspiels Arbeit spielt KI jedoch gar keine Rolle: Stattdessen zeigt uns die Künstlerin, wie durch den für sie ganz alltäglichen Einsatz neuer Werkzeuge und Materialien – vor allem eben dem digitalen 3D-Druck – in der Kunst tatsächlich neue Ausdrucksweisen und Möglichkeiten geschaffen, erarbeitet werden können. Die heutigen Möglichkeiten, aus dem Vollen zu schöpfen, erlauben und evozieren auch künstlerisch neue Vorgehensweisen:
Das Neue entsteht hierbei jedoch aus dem Altbewährten; ihre eben auch bildhauerische Tätigkeit hat, wie die Künstlerin überzeugend darlegt, sehr stark handwerkliche Züge, die das Wesen ihrer Arbeit weit mehr prägen als irgendwelche „digitalen Visionen“ (?):

Ähnlich, wie vielleicht schon bei Michelangelo oder Rodin, entsteht das „Bild“ des fertigen Kunstwerkes zuerst im Kopf der Künstlerin. Doch Julia Federspiel greift dann (vorerst jedenfalls) nicht zu Hammer und Meißel, sondern zur VR-Brille. Im ersten Arbeitsschritt also beginnt die Künstlerin, die Kunststoff-Teile des Werkes digital und dreidimensional zu modellieren. Die so (zuerst nur digital) entstandenen Modelle müssen dann oft noch nachbearbeitet werden, bis es für den 3D-Drucker (der ja von unten nach oben Schicht für Schicht „aufeinanderlegt“) umsetzbar ist.

Bild rechts: NACHT, 2019
Material: Gips, Holz, Stahl, Epoxy, PU, PLA, Wasserfarbe, Acryl, Epoxidharzfarbe | Maße: 150 x 50 x 25 cm (H x B x T)

So ist das modellierende Nacharbeiten der virtuellen Entwürfe bis zur Druckfähigkeit tatsächlich der wichtigste und auch zeitaufwendigste Teil ihres Schaffens. Hier dann entsteht erst das eigentliche Kunstwerk – und natürlich danach beim Gestalten und Zusammenfügen der kunststofflichen „Ausdrucke“ mit den anderen, uns ja schon bekannten Materialien.

Zwar ist die Kommunikation längst anders als früher – und in und durch die Kunst kommen neue Techniken/Werkzeuge hinzu; doch gute Kunst behält Geist, Empathie – und Seele: Auch ihre digital gedruckten Plastiken sind für die Künstlerin nie seelenlos. Womöglich sollten wir auch unsere Perspektive erweitern und beginnen, die Möglichkeit zu sehen: vielleicht gibt es längst eine Virtual Soul?

Gut: die Welt ändert sich. Bezogen auf den Titel ihrer aktuellen Werkgruppe – “Dämmerung“ – frage ich die Künstlerin: „Ist es eher die “abendliche Dämmerung“, die das Ende unserer analogen Welt ankündigt oder die Morgendämmerung des Digitalzeitalters? Bewegen wir uns gerade in einer Zwischenwelt, die wir dann Nacht nennen sollten?
Julia Federspiel verneint dies entschieden. Nur zufällig also nennt sie eines ihrer Werke NACHT. Gerade diese Arbeit veranschaulicht für mein Empfinden, wie vieles doch bleibt in unserer so oft zitierten (eine ärgerliche Unsinnsformulierung:) sich immer schneller verändernden Welt.

Bild links:  Dämmerung XVI, 2023
PETG, Stahl, Aluminium, Baumwolle

Julia Federspiels Kunst ist definitiv kein „alter Wein in neuen Schläuchen“, aber vielleicht immerhin „Same same but different“:
Der Mensch bleibt Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung. In unserer Mediengesellschaft, in der die Künstler wie beschrieben „aus dem Vollen schöpfen“ und unsere Gesellschaft, mehr als jede andere Gesellschaftsform bisher, zuerst und vor allem Konsumgesellschaft, bleibt der Mensch also Thema. Gerade auch der leidende Mensch: Mit ihrer aktuellen Arbeit links zeigt Julia Federspiel womöglich einen von uns modernen Menschen (die wir uns vormachen lassen, eben als Konsumenten aus dem Vollen schöpfen zu können – Shopping like a Milliardaire) als verzweifeltes Opfer, der Konsumgesellschaft ausgeliefert, schwarz geworden vor Ärger in der alltäglichen Panik im Supermarkt?

Waren es früher oft Zerstörung/Krieg oder Unterdrückung/Klassengesellschaft, die die Kunst, soweit sie sich als gesellschaftskritisch verstand, thematisierte, so rücken Künstler wie Julia Federspiel zeitgerecht die Digital / Informationsgesellschaft und die internetbasierte Konsumgesellschaft in den Blick:
Kunst nutzt zu recht alle heute verfügbaren Möglichkeiten, macht dabei gleichzeitig sichtbar als große Illusion: Fluch und Segen unserer digital new World ist die illusionäre Vorstellung, die Suggestion, wir könnten

aus dem Vollen schöpfen.
Jürgen Linde im Juli 2024

© Werke und Fotos (soweit nicht anders angegeben) in diesem Beitrag: Julia Federspiel