Kunstausflüge mit Sigrid Balke | Das Museum Susch im Engadin
Zeitgenössische Avantgarde im Engadin
Einst brauten die Benediktinermönche in der Brauerei neben dem Kloster Bier und für durchreisende Pilger gab es Unterkunft und Kontemplation. Nach wechselnden Besitzern zog 2019 mit der polnischen Unternehmerin und Kunstsammlerin Grażyna Kulczyk die Kunst in die ehemalige Klosteranlage. Nach umfassender Renovation entstand eine faszinierende Kulisse oder besser ein Schauplatz für eine eindrucksvolle Dauerausstellung und regelmäßige Wechselausstellungen. Re-novation von re novare – zurück zu Neuem hat im Muzeum Susch eine besondere Bedeutung.
Die ursprünglichen Räume blieben weitgehend erhalten und wurden dennoch zu etwas ganz Neuem. Die einmalige Architektur des Muzeums beeindruckt, und nein, Muzeum ist kein Schreibfehler, sondern eine Geste der Sammlerin an ihre polnische Heimat. Grażyna Kulczyk konnte ihren Traum von einem Raum für Ihre Sammlung in Polen nicht verwirklichen und erwarb das leerstehende Ensemble aus Brauerei und Kloster im Engadiner Bergdorf Susch. Ein 200-Seelen-Dorf auf 1400 Meter Höhe, das nach dem Ende der Postkutschen-Ära an Bedeutung verlor. Erst seit es das Museum gibt, ist es wieder ein Anziehungspunkt – neben den kunstaffinen Zürchern oder dem Publikum der unweit gelegenen Nobelorte St. Moritz und Davos auch internationale Kunstliebhaber. Nicht zuletzt ist es ein Kunstausflug, der auch die etwas weitere Anreise aus Deutschland, oder einen Abstecher auf der Fahrt in den Süden lohnt.
Damit knüpft man als Kunstliebhaber an die Route jener Pilgermönche an, die auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela die Alpen durchquerten. Sie fanden Aufnahme im Kloster des Ortes der zusammen mit der Brauerei heute den inspirierenden Raum für zeitgenössische Kunst bildet. Ein Pilgerort der Kunst der mit außergewöhnlichen Innenräumen, in denen die Großskulpturen der Dauerausstellung eine faszinierende Wirkung entfalten. Der grob in den Felsen gehauene Eiskeller „Bieraria Veglia“ bildet den Gegensatz zu der bewegten, hochglänzenden Edelstahlskulptur von Miroslav Balka und ein kleiner Verlies artiger Kellerraum, nur über ein paar Stufen zu erreichen, beeindruckt mit den archaischen, kopflosen Figuren von Magdalena Abakanowicz, die unterschiedliche Gefühle auslösen und verschiedenste Deutungen ermöglichen. Zwei Beispiele, wie die Kunst mit dem Raum und der Raum mit der Kunst korrespondiert. Das neueste Werk Turm für Susch, ein Werk des Schweizer Künstlers Not Vital, ergänzt die drei jahrhundertealten Türme des Dorfes. Aus einem einzigen Marmorblock herausgearbeitet, ist der zehn Meter hohe Turm im Außenbereich eine kongeniale Verbindung von Kunst und Architektur, handwerklichem Können und der gelungenen Integration in eine vorhandene Landschaftsstruktur. Jedes Werk der Sammlung befindet sich an einem Ort, der seine Thematik transportiert, intensiviert, und dem Werk seinen perfekt passenden Rahmen gibt. Daneben gibt es wechselnde Ausstellungen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, zehn waren es bereits seit der Eröffnung des Muzeums 2019.
In drei Jahren Bauzeit entstand ein eindrucksvolles Gesamtkunstwerk aus Architektur und Kunst, Natur und Kultur. Neben den dauerhaften und temporären Kunstausstellungen finden in den Räumen des Muzeums Lesungen und Konzerte statt, und die Kunststiftung von Grażyna Kulczyk ermöglicht Künstlersaufenthalte und initiiert Forschungsprojekte.
Die beiden Zürcher Architekten Chasper Schmidlin und Lukas Voellmy gestalteten die Museumsarchitektur mit Rücksicht und Wertschätzung gegenüber der Substanz aus dem 12.Jahrhundert und der umgebenden Natur, die immer wieder auch Teil der Räume ist. Die insgesamt 1500 Quadratmeter Ausstellungsfläche sind ein Labyrinth voller überraschender Kunsterlebnisse und architektonischer Finessen, man bewegt sich durch schmale Gänge gelangt in Felsenhöhlen oder weiße, großzügige Galeriesäle. Die Natur ist überall gegenwärtig: mit Felsen, Wasser, mit Steinen aus der Umgebung, Lärchen- und Arvenholz, Inn-Kies und Erdfarben. Das erzeugt jene kontemplative, fast spirituelle Stimmung, die den Ort schon für die Mönche zu etwas Besonderem machten. Ein Meisterwerk mit sehenswertem Inhalt!
© Text: Sigrid Balke; Fotos: Harald Lambacher