Uli Rothfuss | Literarisches Leben
Bild links: Uli Rothfuss; © Foto: erlebe wigner
Uli Rothfuss, Professor für Kulturwissenschaft und Publizist, geb. 1961, wohnhaft in Stein/Franken und Ebershardt/Schwarzwald.
Rektor der Akademie Faber-Castell und Leiter des Hochschulstudienprogramms sowie des Weiterbildungsstudiums Literarisches Schreiben und Essayistik.
von Uli Rothfuss
Präsident Europäische Autorenvereinigung Die KOGGE
Frieden – ein Konzept in der heutigen Zeit, oder ein leeres Versprechen?
Und plötzlich ist er ganz nah, der Krieg, die Tötungsmaschinerie. Das Leid, das Grauen, das Nichtverstehen, das nicht verstehen Wollen. Plötzlich ist er ganz nah, als ich die Nachricht in einer Freundesgruppe von Schriftstellern, dem Advisory Board des Writers for Peace Comittee des Internationalen PEN erhalte, vom Tod der Schriftstellerkollegin Victoria Amelina, die bei Raketenangriffen in Kramatorsk/Ukraine durch die russischen Angreifer getötet wurde; offenbar gezielt. Die Nachricht schlägt vor mir ein wie die Rakete, die sie getötet hat. Sie wurde nur gut 37 Jahre alt. Und ich sitze im sicheren Deutschland.
Was ist Frieden?
Ist Frieden bloß die Abwesenheit von Krieg, so wie die gängige Definition suggeriert? Und gibt es Unterscheidungen: Innerer Frieden? Äußerer Frieden?
Vielleicht sollen wir vom kleinen gemeinsamen Nenner ausgehen: Wenn ich mit mir selbst im Reinen bin, habe ich dann inneren Frieden? Und was gehört dazu, diese für sich persönlich friedliche Situation empfinden zu können? Es ist gar nicht so einfach, dahin zu kommen, es gehört sicher eine gewisse Ausgeglichenheit dazu, auch die Gelassenheit, Konfliktpotentiale ertragen zu können, eine Rolle des Vermittelns, und Humor, nicht Änderbares tragen zu können.
Wir leben in einer Zeit, in der die Konflikte, sehr nah, schon in Europa, unserem schönen Kontinent, zunehmen, gar in blutigen Krieg ausarten; und in aller Welt Konflikte aufflammen, die zehn- und hunderttausenden Menschen das Leben kosten. Der Russlandkrieg in der Ukraine, Israel/Gaza, Yemen, Somalia, Sudan, Eritrea, Myanmar seien nur als wenige Beispiele genannt, und das sind die Konflikte, die uns noch gängig sind.
Ich war wieder bei der diesjährigen Writers-for-Peace-Konferenz des Internationalen PEN in Bled/Slowenien. Nachdem ich vor rund 20 Jahren schon einmal dort an Vorträgen, Diskussionsrunden, aber auch ganz persönlichen Begegnungen teilnahm, muss ich (leider) sagen: Es hat sich an der Situation der Bedrohung des freien Wortes, und in deren Folge fast immer aller weiteren Grundwerte wie Freiheit, Freizügigkeit, bis hin zu körperlicher Unversehrtheit, Religionsfreiheit … man könnte diese Katastrophen unendlich fortsetzen, weltweit nicht viel geändert, im Gegenteil, es ist zum Teil viel schlimmer geworden – und die Bedrohung dieses Menschenrechtes ist gar inzwischen ganz nahe gerückt, auch direkt in unser Lebensumfeld hinein. Denken wir an den Konflikt, der uns am nächsten und offen betrifft, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, ein Abschlachten von Menschen in einem Materialkrieg, wie er nicht mehr denkbar war – begleitet von Verfolgungen der letzten kritischen Stimmen, Schreibenden, in Russland, und auch in der Ukraine findet das freie Wort aufgrund Repression nicht immer das Gehör, das ihm gebührt, im Gegenteil, auch hier finden Kritisierende sich Repression ausgesetzt; der Westen beruhigt sich mit Waffenlieferungen, und auch die reichlich zögerlich. Ansonsten geht das Leben, hier, weiter. Jeder spielt Beobachter, diskutiert, die Gefährdung ist weit weg, Betroffenheit .. maximal, am Wochenende die Bundesliga, Weltmeisterschaften hier und da, Diskussionen über die Klimaziele usw. Wir haben uns recht bequem eingerichtet, hier, in unserer Komfortzone. Kein Klischee. Realität.
Aber weltweit – das war ein Vorwurf bei der Konferenz in Bled durch Schreibende aus anderen Weltteilen, dass wir in Europa nur noch den Ukrainekrieg und dessen spürbare Auswirkungen auf uns sähen; vielleicht, jetzt noch, den Krieg in Gaza; und schon hier völlig gegensätzliche Positionen, die Differenzierung geradezu ausschließen, so absolut, wie sie eingenommen werden; – geschehen nicht minder Schreibende existentiell betreffende Kriege und Konflikte, man denke nur die Situation in der Türkei, in der unser deutscher Bundespräsident gerade recht beschönigend auf den Kriegstreiber und Menschenrechtsverachter Rezep Tayyib Erdogan zuging, mag freilich ein taktischer Zug sein, dennoch wirkt es anbiedernd an einen Autoritären, dem die Meinung anderer herzlich egal ist, solange sie seine Position nicht gefährdet; aber auch, einerseits unverhohlen, andererseits geschickt manipulativer mitten in Europa in Ungarn oder Polen. Wo liegt da der Frieden, wo die Perspektive auf die Freiheit des Wortes, dessen Beschränkung oft mit körperlichen Angriffen, mit der Entziehung der persönlichen Freiheit, mit dem Verlust gar des Lebens einhergeht?
Und der Denkende fragt sich, wie es sein kann, dass autoritäre Führer wie in der Türkei, wo doch alles bekannt sein dürfte, wie mit kritischen Autoren umgegangen wird, in einer halbwegs demokratischen Wahl dennoch scheitern, wie jüngst bei den Wahlen? Das Wahlvolk, so scheint es, lässt sich auf Dauer nicht blenden. Das gibt auch Hoffnung für unser Land – selbst in Deutschland, mit seiner Geschichte der Vernichtung, des Völkermords an den Juden und anderer Minderheiten, erstarkt eine rechte, offen nationalistische und extreme Partei, in Teilen der Republik gar zur stärksten politische Kraft. Gibt viel Auskunft über das Wahlsystem, über die Wähler, über das Volk und dessen Vergesslichkeit, dessen Anfälligkeit für subtile Manipulation, auch für dessen Egoismen – zuerst eben halt doch „ich“, das Ranking der Einordnung von Menschen, reinster Rassismus, versteckt hinter dem nur scheinbar relativierenden „aber ..“.
Die Freiheit des Wortes und deren Beschränkung ist oft Ausgangspunkt der Einschränkungen, die schnell auf Grund- und Menschenrechte überhaupt übergreifen, ja, sie sind sehr bedroht, und das nicht nur draußen in entlegenen Winkeln der Welt, sondern auch bei uns. Man könnte sagen, Frieden zu erhalten, bedeutet in erster Linie sich selbst zu finden, einen eigenen, inneren Frieden, der wehrhaft ist, und wachsam zu sein: auf erste Anzeichen, dass Gefahr besteht, und sofort, rechtzeitig und deutlich die Stimme zu erheben, dagegen zu wirken, bei uns selbst, aber auch von hier aus in Bezug auf die Situation in aller Welt.
Was kann ich tun, für meinen und für den Frieden in der Welt?
Wie erwähnt, ich soll erst einmal für mich selbst und mit mir ins Reine kommen. Das ist schwer genug. So viel stürmt auf einen ein, täglich, im Beruf, im privaten Umfeld, durch die Medien, und hier durch die Unreflektiertheit der Sozialmedien – aus denen ein Großteil der Menschen inzwischen allein noch Informationen bezieht, über Gesellschaft, über Politik – da fällt es schwer, sich selbst überhaupt noch zu positionieren und seinen eigenen Standort im Gefüge der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Geschehnisse zu finden. Seit langem stelle ich zum Beispiel in meinen Lehrveranstaltungen fest: nahezu kein Student liest mehr Zeitung, weder print noch online, geschweige denn mehrere, um sich eine Meinung zu bilden. Bedeutet: hier ist natürlich gerade in der Lehre mit jungen Menschen Erziehung nötig, Erziehung zur Kritik und wie sich diese bilden lässt; um seine eigene Position zu finden, ist Beschränkung notwendig – und Konzentration, zum Beispiel in der Auswahl der Informationsquellen. Konzentration auf Seriosität (aber wer bestimmt, was seriös ist?), Konzentration auf den Erhalt differenzierter Meinungen, und es ist nötig, immer wieder die Perspektive zu wechseln und nicht nur die eigene Befindlichkeit zu betrachten.
Als Beispiel: Über den Ukrainekonflikt bekommen wir weitestgehend nur eine Perspektive vermittelt, die des Angegriffenen, der Ukraine. Mit einem eindeutigen Feindbild. Aber was ist diese Ukraine, darüber sich Gedanken zu machen, lohnt. Es gibt nämlich nicht „die“ Ukraine, und schon gar nicht die Ukraine nur als Opfer – auch dort gibt es vielfältige Interessen, vielleicht gar die, den Krieg noch am Laufen zu halten, jüngste Korruptionsskandale um selbst Minister erhärten diese Gedanken, um die Macht im Land zu sichern, um Verbündete in ihren Interessen zu befriedigen. Im Zuge dessen wird vielleicht auch die Freiheit des Wortes mancher beschränkt, die nicht auf Linie sind .. oder lohnt es sich vielleicht, nicht nur vom „bösen Russland“ zu sprechen, das zu personalisieren in Verantwortungen, sondern einmal die Perspektive des russischen Bauern in der sibirischen Tundra einzunehmen, weit weg vom Krieg, dem dieser vielleicht herzlich egal ist, und der ganz andere Überlebenskämpfe ausficht, weil er seine Produkte nicht mehr verkaufen kann, kaum Einnahmen hat, und die Zusammenhänge mit dem Krieg nicht erfasst.
Perspektivwechsel lassen Interessensgefüge völlig neu ins Blickfeld geraten, und diese Weitung des eigenen Sichtfeldes erlaubt das darüber hinaus Blicken, die Reduzierung der eigenen kleinen Welt und die Einpassung in größere Zusammenhänge.
Und damit sind wir, ausgehend vom inneren, beim äußeren Frieden. Der Blick über den eigenen Tellerrand, nicht nur geografisch, sondern auch mental, und mit Interesse für die Perspektive anderer. Da öffnen sich dann plötzlich Welten, und als denkender, fühlender, intellektuell sich beteiligender Mensch kann man eigentlich nicht anders, als sich einzubringen, als Partei zu ergreifen – für die Verfolgten, für die mundtot Gemachten. Und Partei ergreifen heißt eben: aktiv zu werden, Kontakt aufzunehmen, sich einzusetzen je nach eigener Möglichkeit und damit Briefe zu schreiben, Unterstützungsartikel zu veröffentlichen, Schicksale zu benennen, Hilfen zukommen zu lassen. Das nun ist unsere Aufgabe als Schreibende, nicht nur Schönwettergeschichten zu verfassen, die den Lesenden und Hörenden ein heimeliges ästhetisches Gefühl vermitteln, das freilich auch ist mal legitim, aber sich einzusetzen dafür, dass wir das hier weiterhin so machen können, und dass Autorinnen und Autoren weltweit in ihrer Umgebung und ihren Ländern auch können.
Schriftsteller für den Frieden. Es ist ein gigantisches Konzept, das verwirklicht sehen zu wollen, mit dem Schreiben, mit dem Anheben der eigenen Stimme für die Freiheit des Wortes, tatsächlich die Welt verändern zu wollen, und sei es nur ein kleines Stück. In der Summe, man stelle sich vor, die Schreibenden der Welt nähmen alle auf einmal bewusst andere Perspektiven ein, sähen jeder einzelne auf einen anderen Konflikt in der Welt, dächten an das Schicksal einer inhaftierten Autorin, eines inhaftierten Autors irgendwo fernab und nähmen sie in Fokus, um zu überlegen, was kann ich, ich persönlich, für genau diese Kollegin, für genau den Kollegen, tun? Bei vielen würde das tatsächlich die Welt ändern. Und Idealismus gehört schließlich auch noch dazu.
Vor Jahren, zur Zeit als Russland die Freiheitsbewegung in Tschetschenien niederbombte und aus der Hauptstadt Grosny eine Ruinenstadt machte, schrieb ich mit einem tschetschenischen Schriftsteller, der während dieses Krieges fast alles verlor: Familienmitglieder, sein Haus, seine Heimat, ja auch Manuskripte, an denen er lange gearbeitet hat. Der in Russland nicht mehr schreiben durfte. Ich weiß dass es bei vielen in ähnlicher Situation ist wie bei ihm: Er gab die Hoffnung nicht auf, dass bessere Zeiten kommen. Dass ein Überleben möglich ist, körperlich, aber auch ein Überleben der Freiheit der Gedanken und des Wortes. Ohne diese Hoffnung, und bei so vielen in dieser Situation, würde ein Weiterleben keinen Sinn machen.
Wir wollen uns heute unter verschiedenen Aspekten mit dem Thema „Schriftsteller für den Frieden, Schreiben für den Frieden“ auseinandersetzen, aus unterschiedlichen Perspektiven – von der ganz privaten bis hin zur öffentlichen. Insofern ist das Nachdenken über das Schreiben in einer Zeit der Angst das richtige Konzept, so es denn zu Schlussfolgerungen führt.
Uli Rothfuss