Buchtipps von Uli Rothfuss | Beliban zu Stolberg: Zweistromland, ein Roman
Biografie eines Mädchens, das in einer norddeutschen Küstenstadt aufwächst, freilich spürt, dass da aufgrund der Herkunft – im Roman das Kind kurdischer Eltern – etwas anders ist als bei den deutschen Freundinnen (die, naja, auch nicht so deutsch sind, mit ihren Herkünften), die auch spürt, da wird in der Familie etwas ausgeklammert, totgeschwiegen. Da ist der seltsame Bruder, der eigentlich woanders wohnt (oder soll man sagen untergebracht ist); da sind merkwürdige Anwandlungen der Mutter, die trinkt, nicht maßlos, aber immer wieder, und in besonderen, psychisch belastenden Situationen; und der Vater, der bewusst mit seinem Bankjob die bürgerliche Fassade aufrecht erhält. Manchmal ist man geneigt, zu denken: eine übertrieben deutsche Familiensituation; eine Anpassung an hiesige Verhältnisse, die einpasst – aber gerade auch nicht.
Die junge Ich-Erzählerin, wach, interessiert, stolpert in die Familiengeschichte hinein, durch ihr
diffuses Interesse; sie findet eine Kassette, auf der der Vater, Anwalt, das erfährt sie dann, in
Kurdistan, Diyabakir, ein Plädoyer hält, der sich für die kurdische Sache einsetzt, gerade so, dass er
den türkischen Häschern entgehen kann; die Rolle der Mutter erschließt sich erst langsam, das
Verhältnis der beiden Eltern zu einander, die Mutter, entschiedener, radikaler, sie auch in Haft, was ihr
da geschieht wird angedeutet, der Sohn scheint ein Ergebnis zu sein.
Die Erzählerin, im Roman Anwältin in einer Istanbuler Kanzlei für Wirtschaftsrecht und gefragt wegen
ihrer Herkunft und deutschen Biografie, rutscht langsam in die Geschichte ihrer eigene Familie, in ihre
eigene Herkunft hinein. Will mehr darüber wissen, reist in den Osten, nach Kurdistan, wo permanent
Kriegszustand herrscht, wo der türkische Staat mit aller Macht versucht, das kurdische
Freiheitsstreben im Keim zu ersticken; Panzer auf der Straße, Einschusslöcher in den Häusern,
Festnahmen, mit all diesen Vorstellungen reist sie in die Stadt ihrer Eltern, findet Spuren, auch
Misstrauen, Kontrollen, und gräbt sich hinein ich die eigene Herkunft. Lösen kann sie ihren eigenen
Zwiespalt nicht, aber diesem näherkommen, dem Wissen, warum in ihrem Leben heute vieles so und
nicht anders ist. Sie kann lernen, die Eltern zu verstehen – auch dass sie diese Vergangenheit, Haft,
Folter, ausklammern aus dem Leben, um im Augenblick leben zu können, vielleicht ein wenig nach
vorne zu blicken. Es ist damit die Aufnahme eines der großen Themen der Zeit: der Auflehnung gegen
Unterdrückung, gegen das Autoritäre, unser Leben Bestimmende, das Verzweifeln daran, letztlich die
Aufgabe und Flucht in ein Land, wo es besser scheint – äußerlich. Aber die inneren Monster bleiben,
die die Gepeinigten verfolgen, bis in die Träume hinein, so sehr sie auch versuchen, sie zu
unterdrücken und das Thematisieren wegzusperren.
Beliban zu Stolberg erzählt das in einem sehr angemessenen, emotional zurückgenommenen Ton. Als
Leser fühlt man sich informiert, geht man mit der Erzählerin und entdeckt schrittweise Neues, ist
eingebunden in die Gefühlswelt wie in den Kampf um’s Überleben der Menschen im kurdischen Teil
der Türkei, die sich hier besonders autoritär gebärt; die Erzählerin kehrt zurück aus diesem seltsam in
Spannung gesetzten Ort, froh, dem entrinnen zu können. Und mit ihr wir, die Leser, froh auch, neues
nicht aus Nachrichten sondern aus dem Erleben einer Figur im Roman erfahren zu haben,
hervorragend recherchiert und uns nähergebracht wie ein Bericht von innen, von tatsächlichen und
aus der Betroffenheit erlebten Ereignissen.
Und auch hier kann ich nur sagen: Nehmen wir die Forderung aus dem Roman auf, nehmen wir das
Schicksal des kurdischen Volkes vor Augen, das in der Unterdrückung durch die autoritär
diktatorischen Regime in der Region, in der es lebt – in den Grenzregionen der Türkei, des Irak und
Syriens, droht die eigene Identität zu verlieren und verloren zu gehen, nehmen wir das und halten wir
dieses leidende, dieses großartige Volk im Blick, lesen wir die Literatur, die uns in der Übersetzung
zugänglich ist, und gegenreden wir auch hier, wo nötig und wichtig. Das Buch ist beides: Ein stiller
Appell, das macht Literatur aus, auch Einsichten zu vermitteln, die uns zum Handeln veranlassen; und
es ist dazuhin schlicht gute Literatur.
Beliban zu Stolberg: Zweistromland. Roman. kanon Verlag, geb., 208 S., Berlin 2023, 23 €.