In die Landschaft, in die Nacht, und ins eigene Ich.

Buchtipps von Uli Rothfuss | „Das ist Alise“ von Jon Fosse

Es ist ein traumwandlerisch erzähltes Buch, mit Vor- und Rückblenden, mit manchmal kaum zuordenbaren Handlungssträngen, die sich erst später und im Rückblick erschließen; schlicht, reduziert, fokussiert und zuweilen sehr poetisch erzählt, stringent zurückgenommen in der Sprache, die sich auf wesentliche Handlungslinien und Charakterbeschreibungen beschränkt, zuweilen sehr dramatisch, dass dem Leser fast das Herz stockt: in diesem schmalen Roman erzählt der letztjährige Literaturnobelpreisträger, der norwegische Romancier Jon Fosse, auf der Höhe einer bisher ungekannten Meisterschaft.

Eine alte Frau, Signe, liegt in ihrem einsam gelegenen und noch älteren Haus am Fjord, sie wartet immer noch und vergeblich auf den vor vielen Jahren im Fjord verschwundenen Mann, Asle, und es kommen ihr Erinnerungen, Generationen zurück reichen die, und die sich mit der Gegenwart und untereinander vermischen, scharfsichtig im Detail, verschwommen im Zusammenhang – der Erzähler brilliert darin, dies so miteinander in Verbindung zu halten, dass der Leser zwar zeitweilen orientierungslos und atemlos weiterliest, sich nicht nur mitgenommen, sondern mitgerissen fühlt, hinein in den Sog dieser Geschichte und damit der Personen, der Landschaft, des Hauses am Fjord, hinein in die Nacht, in die Signe durch das Fenster, wie so oft und allabendlich immer wieder, hinausstarrt.

Was macht es aus, dass den Leser die Erzählung noch lange nach dem Lesen beschäftigt, ihm die Figuren vor Augen stehen wie reale Personen, die Landschaft, dass rauhe Wetter, das aufgewühlte Wasser im weiter unten liegenden Fjord wie eigene Seelenlandschaften?

Es ist, näherungsweise gesagt, das Wiedererkennen des Außen im Buch im eigenen Inneren, zuweilen das Erschrecken über das so existentielle Deutlichmachen eigener Zustände, seien sie in Vergangenheit oder gerade eben, diese so unmittelbare Bezugnahme des Erzählten auf sich selbst.

Jon Fosse verfügt da über ein Sensorium, das weit in die Gemütszustände heutiger Menschen hineinreicht, und zugleich über die Kenntnis der Wichtigkeit von Landschaft und ihrer mitnehmenden, drastischen Beschreibung, deren Transformation in innere Bilder und Zustände hinein ihm scheinbar mühelos gelingt.

Und über die Kraft der Nacht, die Jon Fosse eindringlich beschreibt, über das nicht Sehbare, das die Vorstellungswelt aktivert, und in der dann ein kleines Licht Hoffnungsschimmer wird; das Hinausblicken, stunden-, tagelang in die Nacht, das dieses Warten aufheizt mit Bildern der Vergangenheit, die ins Heute und in die Zukunft hineinragen. Ein Erzählabenteuer ohne gleichen.
Es scheint hier vieles angelegt, was das Menschsein ausmacht, das Nachdenken über sich, über das eigene Herkommen, über die Landschaft und meinen, des Lesers Bezug dazu; auch, natürlich Wünsche, Hoffnungen, das Herauskommen aus der Gefangenschaft in Überkommenem, das mich plagt.

Das Buch ist nicht desillusionierend, es gibt zart Hoffnung, und sei es eine, die bedeutet, dass man der Vergangenheit, dem Jetzt erst einmal begegnen muss, damit wenigstens Einsicht geschieht. Damit ein vorsichtiger Ausblick möglich ist, der sich nicht verselbständigt, sondern mitnimmt. In diesem Roman geschieht das vielschichtig und mehrdimensional, und gelingt gut.
Es ist ein Buch des Nachdenkens, und des nachdenklich Machens, das zum Begleiter wird, das einen lange nicht loslässt. Höchst lohnend als Lektüre und darin, sich noch lange damit zu beschäftigen.

Jon Fosse: Das ist Alise. Roman. Geb., 128 S, mare Verlag, Hamburg 2023, 22 €.