Über „Dämmerung der Leitwölfe“ von Werner Streletz
Es ist ein Eintauchen in das Milieu des Ruhrpotts neuerer Prägung, ein sich Verlieren in Biografien und Haltungen dort Aufwachsender, vom Autor mit dem ihm eigenen Erzählfluss erzählt, der den Leser hineinzieht in Handlung und Szenerie – nur diesmal anders, als ich es bisher kannte, nicht entlang einer Dichterbiografie, sondern als seltsam dahinmäandernde Geschichte, quasi ein Mitlavieren, zum Teil auch Mitleiden mit kantig gezeichneten Charakteren, ich möchte sagen, deutscher Nachkriegsprägung.
Es ist mit Mühe verbunden, hineinzufinden in die Geschichte; und erfordert, sich einzulassen auf die erzählte Lebensform, auf die sichtbaren und versteckten Abgrenzungskämpfe von Jugendlichen, jungen Erwachsenen, die durchaus ihr alternatives Lebenskonzept verwirklichen wollen. Der Autor erzählt das unsentimental, eher manchmal dokumentarisch beschreibend, dann wieder mit Anflügen von Sympathiebekundung einzelnen Figuren gegenüber, wobei diese wechseln, sodass es auch keinen herausragenden Helden der Geschichte gibt. Diese, die Geschichte, nachzuerzählen, fällt deshalb auch nicht leicht, weil ein Stück Leben herausgegriffen wird, auch wenn das Ende der Geschichte mit dem Ende des Konzepts eines Zusammenlebens einer Jungmännergemeinschaft zusammenfällt; so weiß man doch, dass gerade diese Zeit prägend für alle in dieser Kommune sein wird, sie sich im künftigen Leben, jeder für sich, daran zurückerinnern werden.
Dem Autor gelingt mit diesem Roman wieder einmal, ein ganz spezifisches Lebensgefühl wachzurütteln – und damit hat dieses Buch doch wieder mit all den anderen des Autors zu tun; als beschwöre er eine Zeit, ein Lebensgefühl, eine typische, wiedererkenn- und erlebbare Atmosphäre herauf, und das geschah auch schon in seinen biografischen Annäherungen, auf ganz andere Art, aber doch, an die von ihm goutierten Dichter. Man merkt den geschulten Journalisten, der zu beobachten versteht, und der das Beobachtete manchmal ganz lapidar in Worte transferiert; man sieht aber auch den Autor, der sich als Erzähler vom journalistischen Medium absetzt, der eine Geschichte erzählerisch umsetzt mit allen Stilmitteln der Literatur, mit inneren Monologen, mit Rückblenden, mit dem Changieren zwischen Perspektiven, dem geschickten Einsatz dialogischer Elemente, und der sich um die Wirkung beim Leser bewusst ist.
Im Prinzip ist im Buch alles vertreten, an großen und kleinen Befindlichkeiten: vom Lebensüberdruss bis hin zur Freude an sich und der Welt – dies dargestellt an den beiden, wenn man so will, Hauptfiguren, die andere, ähnlich sensibel gestrickte Jungmänner um sich sammeln und je zu sich ziehen. Auf dem Cover ist vom „Wettstreit auch um zwei Lebenssichten“ die Rede – das wird nun beim Lesen mitunter nicht so deutlich wie die Einblicke in ein Milieu, bei dem es um genau das geht: Lebenssichten auszuleben, nicht (nur) als Wettstreit, sondern eher gerade mal das nehmend, was naheliegt, oder der eigenen Stimmung entspricht.
Der Roman ist raffiniert gestrickt, und das offenbart sich erst schrittweise beim Lesen – erst vermisst man als Leser den größeren Plan, der sich dann im Nachhinein erschließt. Dass es eben Entsprechung zwischen Landschaft und Zeitläuften und den handelnden Personen gibt. Dass Kunst ein ewig verbindendes Element sein kann, und sei es nur der Wille dazu. Man spürt die Kraft der Kunst, die in das Leben hineinwirkt, auch bei denen, die erstmal kein näheres Interesse daran haben.
Es ist ein Buch, das es dem Leser nicht leicht macht. Das sich dennoch gut, flüssig, spannend liest, das tiefe Einblicke gibt in Lebensverhältnisse und Lebenshaltungen einer Generation von suchenden jungen Männern. Dessen Lektüre lange nachhallen wird.
Werner Streletz: Dämmerung der Leitwölfe. Roman. Geb., 170 S., projektverlag, Bochum 2022, 14,80 €.