Städtische Galerie Böblingen | 07. 11.2021 bis 20.03.2022 | “Elan Vital – Poesie der Bewegung”
22.02.2022 Entry # 12 – Thomas Lempertz – ‚Spuren des Ichs‘
„Eines der Ziele der „Schöpferischen Evolution“ ist zu zeigen,
dass das Ganze die gleiche Natur wie das Ich hat
und dass man es durch eine immer vollständigere Vertiefung
seiner selbst erfasst“. (Henri Bergson, 1907)
Thomas Lempertz – ‚Spuren des Ichs‘
Spitzenschuhe und Ballettstangen – Instrumente der Leichtigkeit oder Instrumente der Folter? Für den Objekt- und Performancekünstler und ehemaligen Solisten des Stuttgarter Balletts Thomas Lempertz, ist genau diese Ambivalenz der Schlüssel zu seiner Kunst!
„Wie die Ballettstangen bieten auch die Spitzenschuhe den Tänzern Halt, sind aber noch wichtiger, da sie die Künstler über das Studio hinaus auf die Bühne begleiten. Es ist keine Übertreibung, die Schuhe als eine Verlängerung des menschlichen Körpers zu bezeichnen, fast wie ein Körperteil oder eine Prothese, die man trägt und die zu einem unverzichtbaren Teil der Tänzerin wird“. (Thomas Lempertz)
Bei der eher ironisch »Terpsichore« betitelten Skulptur (Terpsichore: Aus der griechischen Mythologie die Muse des Tanzes und der Chorlyrik) bricht der Künstler mit den damit verbundenen Erwartungen. Denn die ca. 2 Meter große Skulptur entspricht so gar nicht einer grazilen und anmutigen Muse des Tanzes! Ganz im Gegenteil lässt sich unter der abstrakten Auftürmung von rund 1000 zerstörten und neu arrangierten Spitzenschuhen weder ein Körper noch ein Gesicht oder gar Geschlecht erkennen. Vor uns steht eine schwerfällige, leidende und gequälte Figur, die gewaltsam von einer hölzernen Ballettstange durchbohrt wird. Dadurch hat die vermeintliche »Terpsichore« aufgrund eines fast schon überzogenen Materialaufwands ihre Leichtigkeit, Grazilität und Beweglichkeit eingebüßt.
Wäre da nicht der Spiegel: Trotz dieser gewaltigen Masse scheint die Figuration aber doch zu schweben; denn man sieht keinen Boden und damit wird die Ambivalenz zwischen der großen aufzuwendenden Kraft der Tanzenden und ihrer scheinbaren Leichtigkeit eindrucksvoll unterstrichen. Durch die waagerechte Ausrichtung des Spiegels werden hier die Betrachtenden selbst nur nebenbei in das Kunstwerk einbezogen. Der Mittelpunkt der Reflexion ist das Werk»Terpsichore« selbst, denn so verkörpert es den Kontrast des Balletttanzes zwischen enormer Disziplin, brachialer Kraftanstrengung und dem Paradoxon der schwebenden Leichtigkeit.
Unterstützt wird diese Ambivalenz auch durch die verwendeten Materialien und dem Herstellungsprozess. So verweisen neben dem Titel der Skulptur die rosafarbenen Spitzenschuhe mit ihren weichen Satinbändern auf weibliche Merkmale, während die Ballettstange aus Holz, sowie der Herstellungsprozess, auf männliche Merkmale hinweisen. Das Element der gewaltig daherkommenden Destruktion in seinem Werk beschreibt der Künstler folgendermaßen: „Das Biegen der Schuhe und das Umdrehen um das Kunstwerk zu schaffen, erfordert brachiale Kraft“.
Vielleicht aus Intuition heraus oder aber geprägt von langjährigen persönlichen Erfahrungen als Tänzer fasziniert Thomas Lempertz diese Verschmelzung von Werk und Selbst, oder mit den Worten der französisch-US-amerikanischen Künstlerin Louise Bourgeoise ausgedrückt: „Ich habe kein ICH. Ich bin mein Werk“.
Der Installation »Terpsichore« von Thomas Lempertz sind zwei Arbeiten von Willi Baumeister als avantgardistische Fußnoten gegenübergestellt, dem in Tusche gemalten figurativen Frühwerk aus dem Jahr 1911 mit dem vor körperlicher Kraft strotzenden Titan “Prometheus” und dem zehn Jahre später entstandenen Werk ‚Archaische Figur‘ (Apoll) von 1921. Ein spannungsvoller Dialog eröffnet sich zwischen den über ein Jahrhundert auseinanderliegenden Werken von Thomas Lempertz und dem zu den bedeutendsten Wegbereitern der internationalen Abstraktion zählenden Willi Baumeister.
(Text: Birgit Wilde)