Kette rechts“ für Denker

„Kette rechts“ für Denker

Harald Schwiers im kunstportal-bw

Die Straßenrad-Saison ist beendet und gerade hat der Veranstalter den Streckenplan für die Tour de France 2022 bekanntgegeben. Der wird nicht jedem Radsportler schmecken, aber das ist immer so, zumal ein paar Kilometer auf den berühmten pavés, den Kopfsteinpflastern in der Hölle des Nordens (dem Rennen Paris – Roubaix) zum Programm gehören. Insgesamt ist die nächste Tour 3.328 Kilometer lang, beinhaltet zwei Einzelzeitfahren und fünf Bergankünfte.

Genau diese fünf Zielstriche in den beachtlichen Höhen von Alpen und Pyrenäen dürften nach dem Geschmack von Guillaume Martin sein. Der Profi vom Team Cofidis ist ein ausgewiesener Bergfahrer und Kletterer und die stille Hoffnung der ganzen Grande Nation auf einen Toursieg. Immerhin erreichte Martin dieses Jahr am Ende in Paris Platz acht der Gesamtwertung (bei der Vuelta 2020 in Spanien gewann er das begehrte Bergtrikot) und war zwischenzeitlich sogar einige Tage auf Platz zwei. Motto: Kette rechts, das heißt immer im größtmöglichen Gang fahren; Druck auf den Pedalen.

Doch Martins Kletterkünste auf dem Rad sind nicht die einzige Stärke des 28-jährigen Parisers: Er hat einen Masterstudiengang in Philosophie an der Universität Paris-Nanterre absolviert, ein Theaterstück geschrieben (das auch aufgeführt wurde) und ein Buch geschrieben. In „Sokrates auf dem Rad“ verknüpft Martin auf sehr amüsante Weise das Rennradfahren mit einigen klassischen Philosophie-Ansätzen. Da treten dann neben Sokrates, Platon und Aristoteles bekannte Typen wie Kant, Nietzsche und Marx in die Pedale und versuchen sich in dieser extrem anstrengenden Form der Körperertüchtigung. Die gedanklichen Linien der berühmtesten Philosophen der Antike und der Moderne muss man nicht einmal parat haben, Martin liefert sie allgemein verständlich nebenbei mit. Ihm gelingt so eine Mixtur aus seinen teils schmerzhaften Erfahrungen des täglichen Trainings bis hin zum Presse- und Öffentlichkeitscircus der bei einer Rundfahrt wie der Tour de France herrscht und nicht immer nur zur Belustigung für die Profis wird (manchmal eben auch zur Belästigung). Neben den Philosophen treten eine Vielzahl bekannter Radprofis aus vergangenen Tagen auf den Plan und trainieren/argumentieren mit.

Schließlich führt Martin den Leser Etappenweise durch die Tour des Jahres 2017, die in Düsseldorf mit einem 14 Kilometer langen Einzelzeitfahren begann und zum ersten Mal auf die inzwischen berüchtigte Planche des Belles Filles am Rande der Vogesen führte. Der Autor verdeutlicht nicht nur die schweißtreibenden Anstrengungen einer dreiwöchigen Radtour, er führt uns auch das Innenleben der Radsportler vor wie es eben nur einer kann, der die damit verbundenen Höhen und Tiefen selbst erlebt hat. Das geht nur mit der Fähigkeit zu enormen Leidensdruck, mentaler wie körperlicher absoluter Fitness und einer großen Portion Glück, von Stürzen verschont zu bleiben.

Als Winter-Überbrückungshilfe für aktive und passive Radsport-Freaks in der Pause der Straßensaison gegen den berüchtigten Hungerast ist ein wenig Philosophie bestens geeignet.

Guillaume Martin, Sokrates auf dem Rad, 224 S., Covadonga Verlag, ISBN 978-3-95726-053-6, 14,80 Euro.