Städtische Galerie Böblingen | 07. 11.2021 bis 20.03.2022 | Élan Vital – Poesie der Bewegung”
41.10 2021 Diary – Entry # 2:
Infos zum Ausstellungstitel
Der klangvolle Ausstellungstitel „Élan Vital – Poesie der Bewegung“ bezieht sich einerseits auf die künstlerische Avantgarde zu Beginn des Jahrhunderts und andererseits auf das epochemachende Hauptwerk ”L’évolution créatrice“ des französischen Philosophen Henri Bergson (1859 in Paris – 1941 ebenda), für das er im Jahre 1927 den Nobelpreis der Literatur erhielt und in dem er den Begriff „Élan Vital“ prägte. In der deutschen Ausgabe wurde es mit „Schöpferische Entwicklung“ betitelt.
Indem der Philosoph diese aus dem Französischen frei als „Lebensschwungkraft“ oder “Lebensimpuls“ übersetzte Begrifflichkeit 1907 erstmals formulierte, gilt er neben Friedrich Nietzsche und Wilhelm Dilthey als einer der bedeutendsten Begründer der sogenannten Lebensphilosophie.
Der Kosmos als Wirkungsraum von widerstreitenden Kräften (Kraft und Gegenkraft)
Das Leben selbst versteht Henri Bergson als permanenten kreativen Prozess, der sich aus den gegensätzlichen Bewegungsabläufen des Vorwärtsdrangs und immer wieder gefolgt von Erstarrung und Beharrung speist. Er stellte fest:
„Die Bewegung ist ohne Zweifel die Realität selbst; die Bewegungslosigkeit dagegen immer nur scheinbar und relativ“. Demnach gäbe es „keine entstandenen Dinge, sondern lediglich Dinge, die entstehen, keine sich erhaltenden Zustände, sondern nur wechselnde Zustände“. Diese permanente Bewegtheit alles Seienden geht nach seinem Verständnis auf eineursprüngliche Kraft, dem „Élan Vital”, zurück, die am Ursprung des Lebens steht und fortwährend zu neuem Gestalten drängt.
Das Gestern wird in die Gegenwart katapultiert
Die Ausstellung nimmt verschiedenartig Bezug auf die gegenwärtigen Lebensrealitäten.
Zweifellos hat Henri Bergson mit seiner Philosophie der schöpferischen Entwicklung den nachhaltigsten Eindruck auf seine Zeitgenossen ausgeübt. Die Problemkreise seines Denkens waren geradezu identisch mit den Themen, die besonders die expressionistischen KünstlerInnen vor 100 Jahren neben den kubistischen, futuristischen, konstruktivistischen und den dadaistischen KünstlerInnen bewegten und stark beeinflussten.
Heute stehen wir erneut vor politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Fragestellungen, geradezu Umbrüchen, die starke Parallelen zur letzten Jahrhundertwende aufweisen. Der technische Fortschritt und der digitale Siegeszug wurden seither immer rasanter und kolossaler. Erfolg und Profit sind immer mehr zu Aushängeschildern der modernen Massengesellschaft geworden. Obwohl man heute von jedem Ort und zu jeder Zeit virtuell in Verbindung treten kann, verarmt die direkte und persönliche Kommunikation zusehends. Neben der hochbejubelten globalen Vernetzung wird als paradoxe Gegenposition wieder Misstrauen geschürt und die Angst vor Verfremdung oder weltweiter Krisen gar Kriegen, nimmt sogar zu.
Und mit dem Anbruch der 2020er-Jahre erscheinen die damals gefundenen Positionen und Sichtweisen im Blick auf die Jetztzeit aktueller denn je. Damals wie heute – noch verstärkt durch die „eingefrorene und kontaktlose“ Zeit während der Corona-Krise –ging und geht es um die Gegenpole Verstand und Intuition, Materie und Geist, Leib und Seele, Raum und Zeit, Automatismus und Willensfreiheit: auf den Punkt gebracht also um „Élan Vital”.