Literaturtipps von Uli Rothfuss
Ein sehr, sehr persönliches Buch von Georges-Arthur Goldschmidt, ein, wie man heutzutage sagen würde, Outing der ganz besonderen Art: streckenweise gar Selbstkritik bis hin zu Selbstanklage dem Bruder gegenüber, der freilich seit zehn Jahren nicht mehr lebt; der aber ganz immensen Einfluss auf das Leben des jüngeren Bruders, damals noch Jürgen-Arthur, ausübt, letztlich bis heute, und Georges-Arthur Goldschmidt, heute einer der renommierten Schriftsteller deutscher Sprache, ist heute weit über 90jährig.
Ich kenne die Bücher von Goldschmidt, die zu weiten Teilen sehr autobiographisch geprägt sind. Thema ist immer wieder die Emigration, der Weggang des jungen, evangelisch Getauften, jüdischer Herkunft, und daher dennoch als „Jude“ im Dritten Reich Malträtierten, des jüngeren Bruders, der zunächst einmal aufschaute zum Älteren, der sich so sehr als Deutscher fühlte und darunter litt, nicht mitmachen zu dürfen, nicht, oder nur mit schlechtem Gewissen, die heroischen Uniformen bestaunen, die ritterlichen Spiele der HJ mitmachen zu dürfen. Plötzlich ging es Schlag auf Schlag, die Jungs mussten weg, zu vermögenden Verwandten, zuerst nach Italien, dann in die Hochsavoyen, sie wurden im Zuge der Flucht auseinandergerissen, Georges-Arthur verliert weitgehend den Kontakt zum älteren Bruder Erich, der sich schrittweise – im nicht okkupierten Frankreich Marschall Pétains – der französischen Sprache, Kultur, als Heranwachsender und junger Erwachsener der Résistance annähert. Der dann ins Militär eintritt, später sogar in der Fremdenlegion und für Frankreich kämpft, in Indochina, in Algerien, zwar mit kritischem Blick sich auch gegen de Gaulle stellt, letztlich damit seine Karriere unterbricht, später dann als Versicherungsbeamter existiert.
.. „durch meine Erscheinung auf dieser Welt habe ich sein Leben zerstört“ – das sagt ein selbstkritischer Georges-Arthur Goldschmidt, und er erzählt aus der Kindheit, wie er die Dominanz des Bruders als Familienkind vernichtet, wie er, der Jüngere, dem Älteren Selbstbewusstsein, Zukunftsblick, wie er ihm die persönliche Kraft nimmt und ihn gänzlich demontiert im Gefüge der bis dahin so festgefügten bürgerlichen, so gar nicht jüdischen Familie im bürgerlichen Hamburg. Das Buch wird als „Der versperrte Weg“ tituliert – das, ja, passt, der Bruder, der vermeintlich Stärkere, wird auf Strecke der Schwächere, resigniert. Der Vater, anerkannter Jurist, lebt etwas abgehoben, die Mutter ist beschäftigt mit eigenen Angelegenheiten. Wenig im „Roman“ über die Entwicklung von Jürgen-Arthur zum gefeierten Romanschriftsteller Georges-Arthur, auch nur Andeutungen über Kontakte zwischen den Brüdern nach den ersten Nachkriegsjahren, wohl ein eher problematisches Verhältnis. Georges-Arthur Goldschmidt hat in seinem heute viel beachteten Werk schon da und dort sachte Hinweise auf den Bruder gebracht, Eindeutiges findet sich nicht – auch nicht in diesem Buch; das ist eher eine Auslotung, ein Vermessen des Beziehungsgeflechts zwischen Brüdern, aber viel mehr, in den Zeitläuften, im Rückblick vom Heute aus, sieben Jahrzehnte zurück, da kann sich manches verklären, vernebeln, manches auch in Vergessenheit geraten.
Betrachte ich die Erzählstruktur: Georges-Arthur Goldschmidt erzählt nicht (nur) linear, entlang der Zeitgeschichte, sondern er baut Rückblenden ein, in den Erzählfluss auch eigene Reflexionen, er arbeitet mit Andeutungen, die diffus genug sind, nicht übertragen werden zu können, aber doch so konkret, dass der Leser eigene Schlüsse ziehen, aus seinen Kenntnissen der Zeitzusammenhänge Bezüge herstellen kann; mir z.B. stellt sich eine Wehmut ein, dass unser Land – am Beispiel der Goldschmidt Jungen, aber damit vieltausendfach – das Potential von Tausenden und Tausenden junger, intelligenter, kreativer, willensstarker Menschen verspielt, weggejagt, hat, das unserem Land fehlt bis heute – nicht (nur) in ökonomischer, sondern vor allem in intellektueller, in der Kapazität geistiger Entwicklungsfähigkeiten Hinsicht. Oh, wo wären wir, wenn damals nicht die Hirntumben, sondern die Vorausschauenden Oberhand behalten hätten. Und oh weh wo sind wir, heute wieder uns mit solchen Ungeistströmungen herumschlagen zu müssen. Auch für die weitere Entwicklung unseres Landes, als Warnung, als Mahnung, macht dieses Buch Mut. Es ist intellektuelles Abenteuer, es ist literarisches Lesevergnügen, es ist schlicht großer Erkenntnisgewinn. Und es rundet unser Bild über den gebildeten, den sich zwischen der französischen und deutschen Kultur Bewegenden, Autor Georges-Arthur Goldschmidt, wunderbar ab, weil der Bruder eben nicht als Widerpart, sondern als Voraussetzung für das eigene Werden als Intellektueller, konstruiert wird. Danke, Georges-Arthur Goldschmidt, für den Mut zu dieser Auseinandersetzung mit sich, mit der eigenen Geschichte. Georges-Arthur Goldschmidt: Der versperrte Weg. Roman eines Bruders. Geb., 111 S., Wallstein Verlag. Göttingen 2021. 20