Buchbesprechung von Uli Rothfuss im kunstportal-bw
Eine Chronistin unserer aller Erinnerungen
Die Unschärfe der Welt, Roman von Iris Wolff
Schon vor dem offiziellen Erscheinen hoch gelobt und für mehrere renommierte Buchpreise nominiert, dieses Buch – das schon rein äußerlich sich edel präsentiert, angenehm für das Auge und auch angenehm anzufassen. Der erste Eindruck eines Buches, auch der rein äußerliche, ist wichtig.
Iris Wolff wendet sich wieder der früheren Heimat ihrer Familie zu, dem Banat, jener ehemals deutschsprachigen Enklave in Rumänien, ein Kosmos für sich, der auch in den Erzählungen, Romanen der Nachfahren schlichtweg bewegende Geschichten überliefert. Die Autorin ist noch in Hermannstadt/Sibiu, in Siebenbürgen geboren, es gibt also noch Kindheitserinnerungen an diese kleine Welt in der Welt, und vieles wird sie nach der Übersiedlung nach Deutschland in Recherchen, Gesprächen mit Eltern, anderen Ausgewanderten, erfahren haben. Was dieses Buch besonders macht, und unter vielen literarischen Versuchen über die alte Heimat hervorstechen lässt, ist die so typische Sprache von Iris Wolff, die wir von ihren in den letzten Jahren veröffentlichten Büchern kennen, eine Sprache, die im Schweben verharrt, die die Melancholie pflegt wie bei kaum einem anderen Autor, eine Melancholie ohne den bloß gerührten, wehmütigen Rückblick, nein, eine positive Melancholie, die diese als Ausgangspunkt nimmt, um in die Zukunft aufzubrechen, das Alte im Gedächtnis zu behalten, manches einzuschließen, die aber, ausgehend von ihr selbst, Geschichten, Ereignisse im Kleinen und Großen ins Heute und in die Zukunft überträgt, und uns so zeigt, wie gerade dieses Kleine und Kleinste Muster sein kann für unser aller Erleben. Iris Wolff ist so eine Chronistin unserer aller Erinnerungen – weil sie aus ihren Erinnerungen, den selbst erlebten und den durch andere an sie überlieferten, für uns ein geteiltes Gut macht, das uns, die Leser, anrührt, mitnimmt, wehmütig manchmal, hoffend oft, ja, auch bedauernd zurückblicken lässt, dass diese Welt, die wenn nicht zukunftsgerichtet aufbrechend im alten, sozialistischen Rumänien, so doch in dieser rumäniendeutschen Welt in der Welt in sich harmonisch scheint; die erst aufzubrechen beginnt, als die Einschläge von außen kommen: die Besucher aus der gärenden DDR, die Berichte von ersten Übersiedelten aus Westdeutschland, wo alles verfügbar, und wenn menschlich nicht besser, so doch beruhigter, der Einzelne in Ruhe gelassen, wirkt; hingegen die Bespitzelung des Pfarrers und eines der Protagonisten, die Einschüchterungen durch Leute, die in der nächsten Bekanntschaft leben, das archaische ländliche Dorfleben, in dem jedem seine Funktion, seine Rolle zugeschrieben, angehaftet wird.
So schafft die Autorin Charaktere, die in dieser kleinen Welt aushalten, ausharren, manche, die ausbrechen – jeden mit übergreifenden und zugleich ganz eigenen Beweggründen, im Leser bewegt sich Wehmut, dass dies alles untergegangen sein soll, eine mehrhundertjährige Geschichte der Siebenbürger Deutschen in wenigen Jahrzehnten weggefegt durch die nur zu oft enttäuschten Versprechungen des westlichen Kapitalismus; das Buch ist ganz sicher keine rundweg formulierte Kritik an dieser Lebensweise, auch nicht an der Lebensweise im zugrunde gehenden sozialistischen Land, sondern viel eher eine sensible Bestandsaufnahme mit dem mal resignierenden Abwarten oder hoffnungsvollen Ausbrechen der, je nachdem aufgestellten Charaktere.
Die Autorin, und damit schafft sie diese federleichten Zustände im Roman, arbeitet viel mit Andeutungen – Er lud sie ins Kaffeehaus ein. Als sie die Blumen unter dem Tisch sah, wusste sie Bescheid …; sie findet Wahrheiten, Weisheiten, die den Leser in den Nachlesetag begleiten: Was einem selbst half, musste nicht das Richtige für jeden sein … – welch andere Sichtweise als die der proletischen Wahrheitsverkünder, die uns heute allerorten begegnen, eine Weisheit, die so leise daherkommt, dass sie sich umso eindringlicher einprägt ins Tägliche hinaus; und, natürlich, findet sie auch für angedeutete Liebesszenarien ihre ganz eigenen, schwebenden Begriffe: … schloss die Augen und strich mit den Fingerspitzen um den Hals … langsam, mit einer Selbstvergessenheit, die jede Berührung umso köstlicher machte … mit dem erlösenden Satz: … war froh, zumindest einmal im Leben eine Ahnung davon erhalten zu haben.
Ja, die Autorin formuliert es selbst: Dabei war … jede Geschichte auf hundert mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht war. Das gilt insgesamt und im Detail für ihr Buch. Es ist unwichtig, ob alles so, oder so ähnlich passiert ist, wichtig ist: es hätte alles so sein können, sie erzählt eine große und viele kleine Geschichten, die uns nahegehen, die Entwürfe sind aus der Vergangenheit heraus, ganz wie sie es sagt: Utopien seinen nicht dazu da, erfüllt zu werden, sondern die Richtung vorzugeben. Und sie gibt uns mit diesem Buch Richtung vor: zu lesen, und aus diesen geistigen Erfahrungen herauszugehen und sensibel, mit offenen Augen das Leben wahrzunehmen.
Bücher waren sein Gedächtnis. Sie bewahrten die Zeit auf, in der er sie gelesen hat. So schreibt Iris Wolff, und genauso ist es mit essentiellen Büchern – sie bewahren die Zeit auf, es ist mit jedem Buch dieser Autorin so, auch mit diesem. Ein großartiges Buch, und eine große Leseempfehlung.
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Roman, geb., 216 S., Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020, 20 €.