Digitale Diktatur – ein Beitrag zum „technologischen Totalitarismus“
Das in der von Frank Schirrmacher in den Jahren 2011 bis 2014 publizierten Essay-Serie thematisierte gesellschaftliche Paradigma des technologischen Totalitarismus könnte schneller real werden, als bislang befürchtet: Digitalisierung und Pandemie beschleunigen gemeinsam eine Entwicklung, an deren Ende eine Digital-Diktatur stehen könnte.
Viele werden sich erinnern an die Serie in der FAZ. Angestoßen von Frank Schirrmacher, der als langjähriger Feuilleton-Chef dieser Zeitung bis zu seinem Tod 2014 der führende Intellektuelle Deutschlands war, haben hier in Form von Essays Wissenschaftler und Künstler diskutiert, wie sich unsere Gesellschaft angesichts der voranschreitenden Digitalisierung verändert.
Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass die Vordenker, die hier zu Wort kamen, die Entwicklung insgesamt für gefährlich halten: Aus der Verbindung der „Datengier“ privater Unternehmen wie Google, Facebook, Amazon etc. (nicht zufällig oft als „Datenkraken“ bezeichnet) einerseits und staatlicher Geheimdienste wie insbesondere der amerikanischen NSA andererseits, könnte, so die Befürchtung, ein totalitäres Kontrollsystem entstehen.
Ein System der Herrschaft ohne personalen Herrscher.
Niemand wird die FAZ für technik- oder fortschrittsfeindlich halten, doch hat Frank Schirrmacher die oben erwähnten Essays als Sammelband herausgebracht unter dem Titel: Technologischer Totalitarismus.
Mit einem eigenen (unveröffentlichten) Beitrag zu dieser Essay-Reihe habe ich versucht, diesen komplexen Begriff ein wenig zu erläutern: Der Titel meines Beitrags ist ein Zitat von Eric Schmidt, dem Chef von Google/Alphabet: „Gibt es Gott?“ wurde Schmidt in einem Interview gefragt. Seine vielsagende Antwort: „Noch nicht„.
Die Diskussion geht weiter. Im Februar 2014 hat der SPD-Europapolitiker Martin Schulz in einem erhellenden Beitrag (FAZ) darüber geschrieben, wie der „gläserne Konsumbürger der neue Archetyp des Menschen“ werden könnte – oder schon geworden ist?
Die Entwicklung, deren Motor die Digitalisierung ist, schreitet weiter voran:
Mit dem Mobilfunkstandard G5 beginnt nach und nach die elektronische Überwachung/Steuerung des gesamten Straßenverkehrs. Weniger Staus und Unfälle werden die Folge sein; die wachsende Kontrolle bleibt anonym.
Soziologisch/wirtschaftsgeschichtlich müssen wir die Digitalisierung als riesigen Rationalisierungs-Fortschritt begreifen, der Wirtschaft und Gesellschaft voranbringt.
Von der nachhaltigen Wirkung her erscheint mir der Vergleich mit der Erfindung der Dampfmaschine nicht übertrieben.
All dies geht weiter und so ist es noch viel zu früh für eine Zusammenfassung.
Doch es ist Zeit für eine Zwischenbilanz:
Digitalisierung, um beim Thema zu bleiben, sehen wir gewöhnlich in Verbindung mit der Globalisierung, dem zweiten Megatrend der letzten Jahrzehnte.
Jetzt aber wird, so könnte es scheinen, alles anders: die Corona-Pandemie scheint uns die Grenzen der Globalisierung aufzuzeigen: Peter Weibel, der Chef des Karlsruher ZKM, der auch als philosophischer Vordenker einen sehr guten Ruf hat, erklärt dies in seinem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung im April 2020: Virus, Viralität, Virtualität.
Mit dem Untertitel – „Wie gerade die erste Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte entsteht“ verdeutlicht Weibel, dass er in dieser Gesamtentwicklung vorwiegend die positiven Chancen sieht. Eine optimistische Betrachtung also, in der Peter Weibel dennoch sehr deutlich wird. Er schreibt: „Dieses Virus zwingt uns, den Krieg des Menschen gegen die Natur einzustellen, zumindest erzwingt es einen Waffenstillstand.“
Peter Weibel glaubt also an oder hofft auf die Vernunft des Menschen, zumal, wenn diese durch Fakten erzwungen wird, erzwungen dadurch, dass wir ja überleben wollen. Sicher hat er recht, wenn er sagt, dass die Globalisierung, wie wir sie bisher kannten, an ihre Grenzen gelangt ist.
Doch ist die Globalisierung damit wirklich zu Ende? Oder, und das ist meine These, nimmt sie nur eine andere – noch digitalere – Form an?
Peter Weibel entwickelt die Idee einer Telegesellschaft, in der die Gefahren zukünftiger Pandemien wohl weitgehend gebannt sein werden und in der etwa auch der Energieverbrauch sinken würde, weil die Menschen – privat wie geschäftlich – weniger Reisen werden.
Wer würde es schlecht finden, wenn zukünftig internationale Politiktreffen, wie etwa in diesem Jahr der G7-Gipfel – immer öfter als Videokonferenz stattfänden? Dies spart nicht nur jedes Mal enorme Mengen an Flugbenzin, sondern auch zig Millionen an Sicherheitsaufwand….
Schwer einzuschätzen ist das hier zu hebende Sparpotential, klar ist aber für uns alle: wenn das gesellschaftliche Leben (die ersten Solidaritätskonzerte im Internet haben ja bereits erfolgreich stattgefunden) insgesamt zunehmend im digitalen Raum stattfindet, so wächst hier auch die Gefahr digitaler Kontrolle.
Anders als in der Dystopie, die George Orwell in „1984“ entwarf, brauchen wir nachher keinen Big Brother – selbststeuernd arbeitet die
Digitale Diktatur.
Jürgen Linde, Juni 2020
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