Lebenserkenntnisse und Wachträume einer Außenseiterin
Mädchenleben oder Die Heiligsprechung. Legende von Martin Walser
Erst einmal ist das ein fein gemachtes Bändchen, das ich in Händen halte, eine ausnehmend filigrane, ausdrucksstarke Zeichnung der Walser-Tochter Alissa Walser auf dem Umschlag, die Schrift feingliedrig wie, das wird sich später zeigen, die zerbrechlichen Beziehungen der Akteure im Buch, und das alles in betörendem violett-rot-blau Gemisch. Die Machart eines Buchs, seine Ausstattung – wie wichtig ist das und wie sehr trägt es in der Gesamtschau zum Wert Buch bei.
Martin Walser, 93jährig, hat hier ein Buch vorgelegt, eine Geschichte, Legende, wie er sagt, die den Leser durchgängig in einer seltsamen Schwebe des Näherkommens an das Verstehen hält, eine Geschichte, die sich zunächst dem raschen, einfachen Eindringen verweigert, ja, die sich nur schrittweise erschließt, das aber auf eine fast zauberhafte Art – weil wir, die Leser, uns an dieser schlichten, zurückgenommenen, etwas antiquierten, und doch erschütternd direkten Sprache berauschen. Sie spielt am See, Motive und dialektale Anleihen weisen auf die Heimat des Schriftstellers hin, und auch das Personal, die Zürns, kennt man aus früheren Werken. Es geht vorderhand um Tochter Sirte – allein der Name könnte nicht passender gewählt sein zu dieser irritierend auf ihrer Eigenheit beharrenden jungen Frau, die gerade Abitur macht, aber entrückt von der Welt agiert, die sich mit Fragen fernab des Täglichen beschäftigt, mit dem wahren Gott, mit der Liebe Jesus, mit ihren eigenen Einstellungen, ihrer Haltung, ihrer Hinwendung zu ihrer Innenwelt; Sirte, die andererseits aber eigenbrötlerisch das Ihre verfolgt, eigensinnig und eigenwillig, sie verschwindet für ein paar Tage, sie lernt ihren Vogel sprechen bis dieser ein Kirchenlied singt, sie wohnt im Haus und scheint doch sehr fremd hier umherzuwandeln.
Und der Beobachter ist Anton Schweiger, Lehrer und Untermieter, er beobachtet Sirte und sich selbst, und was passiert, als die Faszination für das merkwürdige Mädchen zunimmt, ihn zunehmend in Bann schlägt. Auch der Vater, selbst schräg verblendet, erkennt in der Tochter Besonderes, will sie zur Heiligsprechung bringen, und setzt den Lehrer als Beförderer des Anliegens ein; und der sammelt, Notizen und Argumente, Sirte vertraut ihm gar ihre Tagebucheinträge an, gibt Neues hinzu, diese kurzen Gedankennotizen stehen wohl zentral in dem Buch; Lebenserkenntnisse, Wachträume einer Außenseiterin, die mit wachem und zugleich verklärtem Blick auf die Welt sieht.
Es ist ein sicher erzähltes Buch, das unsere Zeit in einen Zustand hievt, der ein abgehobenes Leben vom Täglichen möglich macht. Martin Walser, und es ist wohl Altersweisheit, wie er das in Form gießt, hat einen alten, vor Jahrzehnten bereits notierten Stoff nun zusammengetragen und präsentiert diesen uns, und wir sehen dabei seinen verschmitzten Blick, sein Abwarten, während wir uns mühen, dahinter zu blicken. Lassen wir uns darauf ein, Leser, es gelingt.
Martin Walser: Mädchenleben oder Die Heiligsprechung. Legende. Geb., 192 S., Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 20 €.