„Drei Kilometer“, Roman von Nadine Schneider
Es ist ein Buch der Wehmut. Wunderbar erzählt. Die letzten Monate einer Zeit, die Jahrhunderte gedauert hatte – die Zeit der Deutschen im heutigen Rumänien, kurz bevor und während sie in den 1990er Jahren massenhaft das Land verließen, in dem die Volksgruppe in weiten Teilen seit dem 13. Jahrhundert ansässig war. Das Terrorregime des Ceausescu und seines Clans im sozialistischen Rumänien setzte ihnen besonders hart zu; und diese Atmosphäre der Angst wird auch deutlich in diesem Roman von Nadine Schneider, die selbst aus einer Familie von Rumäniendeutschen stammt, wenn auch, 1990, schon nach Auswanderung der Familie aus dem Banat, in Nürnberg geboren.
Sie ist, das darf man sagen, eine begnadete Erzählerin, eine die mit äußerstem Nuancenreichtum mit der deutschen Sprache umzugehen weiß. Und offenbar eine, die herausragend gut recherchiert – Fakten, Rahmendaten, die Hintergründe und das Dazwischen, das notwendig ist, damit eine Erzählung stimmt, aber nicht nur das: sie kann sich ganz offenbar bis in tiefste Regionen einlassen in das, was ihr von Eltern und Menschen über die eigene Herkunft berichtet wurde; und dies vor allem zum Wendepunkt der großen Geschichte, dem Wegfall des Blockdenkens und der so fest etablierten Überwachungsorgane, was hineinwirkt in die intimsten familiären Bereiche. Die Autorin hat sauber über die Zeit der Ungewissheit, des Ausreisewunsches aus der sich anbahnenden Katastrophe mit Hunger, Bespitzelung und Gängelung durch staatliche „Organe“ recherchiert, aber auch der Heimat- und Erdverbundenheit mit dem Boden der Vorfahren; und sie kann bei aller persönlichen Eingebundenheit gerade so viel Distanz herstellen, dass ihr Erzählen nah wirkt und doch nicht bloß betroffen, sondern mitreißend – besonders deutlich schildert die Autorin das z.B. anlässlich von Besuchen des Friedhofs, illustrierend eben die Art, wie sie andere dort beobachtet, die wie gefesselt scheinen an die Gräber der Vorfahren, und dabei die Protagonistin sich selbst besieht, kritisch, distanziert, und doch als Teil der ganzen Verstrickungen im Dorf und ganzen Land.
Und die Autorin findet unerhörte, unglaublich schöne, zumeist traurige Bilder, um die Stimmung des Buches zu illustrieren. Sie schreibt: Das, was uns erschütterte, geschah in den Nächten, wenn die Gedanken in große Räume traten, die sie nicht kannten … oder, wie sie den Vater beschreibt, in dem Moment, als er der Protagonistin Anna den Tod der Großmutter mitteilt – Deine Großmutter ist heute Nacht gestorben, sagte er, und entsetzt sah ich die Tränen, die in seinem Bart zitterten .. Als müsste man sich nicht an einen Tisch setzen und den Schmerz zwischen den Händen zerreiben in der Hoffnung, dass er wie Sand in den Holzritzen verschwindet.
Die Autorin erzählt eine Dreiecksgeschichte über Anna, die zwischen den rumäniendeutschen Jungen Hans und Misch steht, die wiederum auch miteinander befreundet sind. Anhand dieser Konstellation kann sie uns beinahe, angereichert um die vibrierende Unsicherheit der Eltern, was den Zwang, dazubleiben, und den Wunsch, weg zu gehen, angeht, alles aufzeigen was die Bandbreite der Gefühle ausmacht. – Und zwar individuell, was die so unterschiedliche Hingezogenheit zu den beiden Jungs angeht, und durch die geschickte Verwebung zwischen individuellem Erleben und recherchierter Zeitgeschichte aber auch in übergeordneter Hinsicht, die Protagonistin Anna quasi als Vertreterin einer aussterbenden Art, der kapitulierenden Minderheit im Land, die angesichts der Verhaftetheit mit dem Hof, dem Boden, in dem Generationen der Familie lebten, wie auf all den anderen Höfen und Häusern des Dorfes, die einer um den anderen verlassen, abgesperrt werden, und in denen nur nachts noch, wenn sie aus ihrem Fenster hinüberblickt, es irrlichtert, real, von Eindringlingen, oder nur in der Vorstellung der jungen Anna, sich bis an die Grenze des Erträglichen in Wehmut begibt, die schließlich Misch ziehen lässt über die Felder in Richtung Westen und zumindest vorläufig noch bei Hans bleibt; bis der große Showdown kommt und der verhasste Diktator samt seiner Lady grausame Rache erleben und, tragisches Schicksal, hingemordet werden wie sie einst morden ließen. Die alte Zeit aber, sie kann nicht mehr zurückgeholt werden, zu viele sind schon weg, zu fremd ist die alte Umgebung geworden, und auch der eigene Weggang ist vorgezeichnet.
Nadine Schneider hat ein wehmütiges und darin großartiges Buch geschrieben. Als Leser wünscht man, sie bliebe da, sie nähme die alte Zeit auf und führte die Ahnenliste fort im angestammten Land, sie würde weiter die Sprache der Vorfahren sprechen in den Höfen, Gassen und Häusern, die nun von Fremden besiedelt werden. Die Autorin versteht es, diese Gefühle der Wehmut, des Aufhaltenwollens, zu bedienen, ihr ist es gegeben, mit einer ausnehmend einfachen Sprache im Kleinen und Kleinsten Großes, großartig zu erzählen, und das ist wohl das Schwierigste, dem sich ein Autor stellen kann. An kleinen Geschichten Großes erzählen, sinnbildlich für eine Zeit, die, herübergetragen, für uns alle gilt. Das ist Literatur, die nur empfohlen werden kann. Nadine Schneider: Drei Kilometer. Roman. Geb., 160 S., Jung und Jung Verlag, Salzburg/Wien 2019. 20 €.