Vom Aufbruch zur Rache, ein Wachtraum des Aufspürens von Überbleibseln am Wegrand „Das zweite Schwert.

„Das zweite Schwert. Eine Maigeschiche“ von Peter Handke

Für mich der zentrale Satz im Buch: „Meine Sache, wenn es die überhaupt gibt: Etwas, ohne ein Zutun, gewahr zu werden, dessen freilich in meiner .. Einbildung umfassend und ein für alle Mal, und mit dem Bild dann allsogleich und auf der Stelle wegzudriften in einen Wachtraum so wach, wie ich von nichts Wacherem sonst weiß.“ – Einer jener Handkesätze, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen, er enthält nicht nur das zentrale Handkethema, das Wachträumen als Zustand, den es immer wieder herzustellen gilt, und zugleich enthält dieser Satz so typische Handkewörter wie „gewahr zu werden“, oder „allsogleich“ – die altertümlich anmuten, aber den Reichtum unserer Sprache ausmachen, weil sie nicht anders adäquat Ausdruck finden können.

Es ist dies, das Buch „Das zweite Schwert“, das erste nach der Verleihung des Nobelpreises 2019 von ihm publizierte Buch, und sicher geschrieben und in Druck gegeben vor dem Wissen um diesen, ein Buch, das zentral im Werk des Dichters, des Schriftstellers Handke steht. Und typisch, weil es eben dem Menschen Handke sehr nahekommt: Er berichtet vom Aufbruch zu einem Racheakt, er will die Verunglimpfung nicht seiner selbst, sondern seiner heiligen Mutter rächen, durch eine Journalistin verübt, die ihm nicht mal gut bekannt ist, aber das spielt keine Rolle. Zentral ist der Aufbruch, das Wahrnehmen und Nachdenken zum Aufbruch hin, und dann der Weg zum Racheakt – mit all den Wahrnehmungen, den Wachträumereien des sensiblen Beobachters, mit den Entdeckungen (wie dem Grenzstein aus Königszeiten, der Krone eingestanzt, auf den er sich am Wegesrand niedergelassen hat).

Ich will nicht hier auch noch anfangen, mich über Handkes verunglückte Äußerungen zum Balkankonflikt, über seine Parteinahme für Serbien, auszulassen. Da scheinen einige selbsternannte Rächer nur darauf gewartet zu haben, ihn auseinanderzunehmen. Das ist angesichts dieser großartigen Literatur, diesem sensibelsten, genauesten, hinguckendsten Schreiben unwichtig – wir erleben hier eine Sternstunde glückender Literatur, die, auch wenn es sich bloß um „kleine“ Themen handelt, um Randwahrnehmungen eines umhergehenden Wachträumers, beglückend sein kann. Ich, der Leser, der sich auf Handkes Weise der Weltwahrnehmung im Kleinen einlässt, – und anders kann man vielleicht heute die Welt im Großen gar nicht mehr umfassend wahrnehmen, bin berauscht von diesem Sprachfluss, von dieser ins Innere des Erzählers und damit des Lesers hineinmäandernden Versprachlichung von Beobachtungen, von Empfindungen und deren Vernetzung, dass ich für Momente Glückserlebnisse aufleuchten habe. Es ist ein Buch der Wunder, das ich da in der Hand halte, mit wunderschönem Coverbild übrigens, das Bild der Reste vom Bleistiftspitzen, etwas verwischt, das sich zu einem ästhetisch anheimelnden, weil auch das Erinnerungen wachruft, Kunstwerk formiert.

Dann die Auflösung im Buch, der Akt der Rache, der so typisch für diesen Autor ist: es muss kein Mord geschehen, nicht einmal eine schreiende, Konfrontation, auch kein die Sprache nehmendes Aufeinandertreffen. Nein, er schreibt die Geschichte in vielen Details auf, und die Rache ist: dass die Übeltäterin nicht in die Geschichte gehört, ausgeschlossen wird, ihr nicht das Recht auf Rache zugestanden wird; Rache ist die Nichtrache. Was für eine wunderbare Lösung, die Genugtuung im Verzicht auf Rache.
Ein sprachlich herausragend anregendes Buch, eine auf gut 150 Seiten tour d’horizon in der Ile-de-France, dem Pariser Umland, die man so, ganz nebenbei, zu lieben lernt. Den Nobelpreis, das ist sicher, hat er zurecht bekommen.
Peter Handke: Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte. Brosch., 160 S., Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020, 20 €.