Ästhetische Schönheit und Zeitgeschichte – „Der alte Garten“ von Stanislav Struhar

Sprache, in jeder Hinsicht die literarische und auch die tägliche Sprache, als Umgebungssprache verlieren – und eine neue finden und sich in sie hineinbegeben, davon handelt dieser Ausnahmegedichtband des tschechischen Lyrikers und Romanautors Stanislav Struhar, der mit dieser Gedichttrilogie ganz eindrücklich sich als zeitgenössischer tschechischer Lyriker ins Bild rückt. Ein zweisprachiger Band, Gedichte in tschechischer Sprache und in deutschen Übersetzungen, die vom Sohn des Lyrikers Struhar zusammen mit seinem Vater besorgt wurden.

Es sind Gedichte, die zunächst einmal ob ihrer ästhetischen Schönheit, einer auch in der Übersetzung noch durchweg überzeugenden sprachlichen Brillianz, beeindrucken, mit sensiblen Sprachbildern, die der Lyriker uns vorsichtig präsentiert als Seismographen seiner Wahrnehmung von Welt über Jahrzehnte hinweg: frühe Arbeiten mit noch schmerzhaften Reminiszenzen an die Unterdrückung in der kommunistischen Tschechoslowakei, in der er literarisch opponierte, drangsaliert wurde, psychisch hartem Druck ausgesetzt, bis er schließlich nach Österreich flüchtete – und dort sich nicht durchweg an- und aufgenommen fühlte. All das findet Niederschlag in seiner Lyrik, die ein Anker und zugleich Wegbegleiter ist, und anhand derer wir heute auch ein Stück Zeitgeschichte ablesen können; man erlebe nur den Schmerz um das Zurücklassen des kleinen Sohnes nach, in den Gedichten nie direkt ausgedrückt, sondern allenfalls angedeutet – und gerade deshalb so eindrücklich tiefgehend, von dem ebenfalls Stanislav genannten kleinen Sohn, dem heutigen ebenso sprachsensiblen Übersetzer und Herüberretter seiner Gedichte, mit dem erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein wieder Zusammenkommen möglich wird.

Es sind auch Gedichte, die von den Leerstellen zwischen dem Gesagten, vom Nichtgesagten, leben, Lücken, die sich, beschäftigen wir uns mit ihnen, für uns Leser zu füllen beginnen, Leerstellen, die – Gedichte leben ja, wie jedes Stück Literatur – je nach Rezipient und dessen Einlassung auf die Texte, ein Eigenleben entwickeln, welches Gesagtes, Geschriebenes ergänzt und so für mich, den Leser zum vollkommenen Poesieerlebnis wird.

Es sind Gedichte, die nacherlebbar machen, für die aus der Biografie des Autors heraus erklärbare Ansätze zu finden sind – und wieder nicht, weil sie direkt den Leser und sein eigenes Erleben ansprechen, ihn zurückführen auf sich selbst: Als kleiner Bub/ kletterte ich auf Bäume/ und versteckte mich/ in ihrem Geäst/ dort dachte ich daran/ wie es wohl sein wird/ wenn ich groß bin/ und am Körper/ zitterte ich.

Wer, der sensibel ist, könnte das nicht so nachvollziehen. Und wie großartig bringt es Struhar in Worte, was wir empfinden beim Zurückdenken an die eigene Kindheit – äußerst schlicht, und wunderbar bildhaft, sodass ein Bild entsteht, das bleibt; und weiter, das in meine, des Lesers, Erinnerung eingeht und abrufbar wird. Dafür, ja, ist dem Lyriker Struhar zu danken. Und es ist Auftrag, sich nun dem Erzähler Struhar zuzuwenden.

Stanislav Struhar: Stará zahrada. Der alte Garten. Gedichttrilogie. Geb., 124 S., Wieser Verlag, Klagenfurt 2019, 21 €.